„Wissen Sie, in Malawi leben etwa 14 Millionen Menschen, aber ihre Lebenserwartung ist mit 54 Jahren erschreckend niedrig“, erklärte mir der Deutsche Botschafter in Blantyre. „Neunzig Prozent arbeiten in der Landwirtschaft, die vierzig Prozent des Bruttoinlandsproduktes erbringt. Um Ihre Frage zu beantworten, ja, sie exportieren Zuckerrohr, aber auch Kaffee und Tee, Mais vielleicht noch, sofern etwas übrig bleibt.“

„Zuckerrohr“, sage ich bedächtig. „Wie stelle ich mir das vor? Das Rohr wird abgeerntet und verladen in Säcken oder Containern?“ „Durchaus möglich, dass es so auch gemacht wird, aber ich meine, wenn Sie das wirklich interessiert, besuchen Sie doch einen der Exporteure“, und ich kritzelte mir einen Namen mit Adresse auf den Rand seiner Visitenkarte. „Gehen Sie vorsichtig damit um. Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber diese Karte garantiert Ihnen einen Termin bei diesen Leuten.“ Ich zog wohl ein erstauntes Gesicht, denn der Botschafter meinte: „Glauben Sie es mir einfach und jetzt lassen Sie uns Tennis spielen. Ich vertraue Ihnen kein Geheimnis an, wenn ich Ihnen sage, ich langweile mich hier zu Tode. Man hat mich mehr oder weniger hierher strafversetzt. Ich war davor im Norwegischen und  Schwedischen. Das war ein anderes Leben, da gab‘ s politisch tatsächlich etwas zu tun, richtige Diplomatie, mein Handwerk, das ich gelernt habe, war wirklich gefragt.“ „Nun“, meinte ich zögerlich, „so schlimm wird es doch hier auch nicht sein?“ „Schlimmer, es ist schlimmer. Ich bin zu jung, als Pensionär und Diplomatie …? Hier werden die Dinge anders geregelt. Vielleicht erzähle ich Ihnen später davon.“

Wie spielten ein paar Runden. Ein sehr gepflegter Court, zwei Doppelplätze, Sand, vom Feinsten. Tennisbekleidung, Schuhe, Handtücher, alles vorhanden. Ein Bediensteter führte mich in einen Umkleideraum, in dem zwei Schränke die benötigten Utensilien in unterschiedlichen Grössen aufbewahrten, fein säuberlich gereinigt, gebügelt und zusammengelegt, die Schuhe auf Schuhspanner aufgezogen, beinahe Britisch. Kühle Getränke machten das Spiel mehr als angenehm und um’s Gewinnen ging es hierbei ohnehin nicht.

Dass wir Blantyre überhaupt erreicht haben, grenzte schon an ein Wunder. Eine Stunde ausserhalb von Lilongwe machten wir nichtsahnend einen Fehler. Einige jüngere Männer winkten, offensichtlich, um uns zum Anhalten zu bewegen, was wir auch taten. Zwei von ihnen stürmten sofort auf unser Fahrzeug zu, einer von ihnen eine Pistole im Anschlag. „Scheisse“, entfuhr es mir unwillkürlich, „muss das sein?“ Es musste nicht, aber es war.

Der mit der Waffe fuchtelte herum und befahl uns, auszusteigen. Kaum standen wir auf der Strasse, als sich der zweite hinter’s Steuer klemmte und versuchte, den Motor zu starten. Er würgte ihn aber ab, zu nervös der Bursche, erkannte ich. Derweilen machte uns der Typ mit der Pistole unmissverständlich klar, dass er an unseren Brieftaschen, respektive dem darin befindlichen Geld interessiert sei. Während dieses Spektakels blieben die anderen aus der Gruppe in einiger Entfernung stehen und beobachteten das Geschehen, bereit, jederzeit einzugreifen, sollten ihre Kollegen in Schwierigkeiten geraten.

Bevor ich mir noch ein zweites Scheisse über die Lippen quetschen konnte und widerwillig bereits nach meiner Brieftasche griff, geschah etwas völlig Unerwartetes. Zwei Fahrzeuge schossen auf uns zu, stoppten abrupt, und Männer in Uniformen stürzten von den Ladeflächen. Ohne einen Wortwechsel eröffneten sie sofort das Feuer aus Gewehren und Pistolen, ein ohrenbetäubendes Staccato. Dann plötzlich Ruhe, nein, Stille, absolute Stille. Kein Schuss mehr.

Bis auf den Mann hinterm Steuer lagen alle aus seiner Gruppe am Boden. Keiner rührte sich mehr. Im ersten Schock dachte ich, die wären alle tot. Sie lebten, hatten aber ihre Ausweglosigkeit erkannt und sich auf den Boden geworfen. Einer der Soldaten oder Polizisten sagte etwas in einer Sprache zu ihnen, die ich nicht verstand. Den anderen zogen sie aus unserm Wagen. Mit Plastikbändern fesselte sie ihre Handgelenke, dass sie aufjaulten, um sie dann mit derben Griffen und Tritten in eines der Fahrzeuge zu verfrachten. „Entschuldigen Sie bitte“, sagte einer der Uniformierten auf Englisch, „marodierende Banden aus Sambia oder Mosambik. Wir verfolgen sie schon eine Weile. Bei uns in Malawi sind Sie sicher, wir sorgen dafür.“ Er legte seine Rechte an das Barett, grüsste militärisch und bedeutete uns, weiterzufahren.

Meine Kollegen, die anderweitig beschäftigt waren, hatten nichts gegen meinen Alleingang einzuwenden, sofern ich zur Verfügung stünde, wenn sie mich bräuchten. Gemacht. Ich weiß gar nicht mehr so recht, wie ich auf die Geschichte mit dem Zucker gekommen bin, aber ich meinte mich zu erinnern, dass es die Redakteurin eines österreichischen Senders war, die mich darauf gebracht hatte. Launisch hatte sie eines Tages gesagt, sie tränke schon lange nichts mehr von diesem Saftzeug, alles nur Zuckerkonzentrat, meinte sie. Ich war beeindruckt und wollte meine Geschäftsreisen nunmehr auch dazu nutzen, mir hierüber Klarheit zu verschaffen. In Malawi fing ich damit an, und glauben Sie es mir, ich hatte keinen Schimmer, in welches Schlamassel ich dadurch geraten sollte.

An der angegebenen Adresse wurde ich sehr höflich und zuvorkommend empfangen. Der Botschafter hatte nicht zu viel versprochen. Die Bewirtung war beachtlich und bestand aus dem, was das Land bot, und der örtliche Markt an Gemüse und Früchten hergab. Eiskaltes Bier, Wasser und vielerlei Säfte standen zur Auswahl. Aus einem Eiskübel ragten die Hälse zweier Flaschen Champagner. Rot- und Weißwein aus Südafrika daneben, der Weißwein auf Eis.

„Sie möchten also etwas erfahren über Zucker“, fragte mich der Gastgeber freundlich. „Ihr Botschafter, ein Freund unseres Hauses, hat mich informiert.“ Interessant, dachte ich, aber er hatte ja erwähnt, ihm sei es hier langweilig, und da suchte er wohl etwas Abwechslung. „Ja, das stimmt“, sagte ich. „Zucker ist für mich etwas Exotisches, den ich verbrauche und geniesse, aber nichts darüber weiß.“ „Hm …, die Firma, für die Sie arbeiten, ist aber doch im Elektronikbusiness tätig, nicht wahr?“, retournierte er, „was interessiert Sie da am Zucker? Sie schreiben nicht für ein Magazin oder eine Zeitung?“, wollte er wissen. „Nein, tue ich nicht“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Gut, dann werde ich Ihnen erzählen, wie das Zuckergeschäft läuft und ein guter Tip, behalten Sie es für sich, niemand will es wirklich wissen.

Ich erfuhr, dass der Zuckersaft aus dem Zuckerrohr gepresst wird und die zurückbleibende Masse Bagasse heisst, die man verwendet als Futtermittel, zur Papier- und Kartonagenherstellung, als Brennstoff und sogar als Baumaterial und in der chemischen Industrie. Das Zuckerrohr sei auch bestens für die Zahnreinigung geeignet, was der Grund hierfür sei, warum viele Einheimisch ununterbrochen Zuckerrohr kauten. „Aber Sie wollen wissen, was es mit dem Zuckersaft auf sich hat, so ist es doch?“, fragte er. „Ja“, antwortete ich lapidar. Nach einer Weile verstand ich, wie kompliziert es doch ist, den Zuckersaft zu gewinnen und solange zu verdicken, bis daraus Zuckersirup entsteht. „Diesen füllen wir dann je nach Bestimmungsort in verschiedene Transportbehältnisse, Naturschläuche aus gegerbtem Darm, Flaschen, Fässer oder Container.“

120 Millionen Tonen Rohrzucker werden weltweit produziert, dazu kommen dann noch die Zuckerrüben und die Zuckergewinnung aus anderen Pflanzen. „Wir sprechen von einem gigantischen Markt mit gigantischen Umsätzen“, erklärte mein Gastgeber. „Sie müssen eines verstehen, wo solche Dimensionen gehandelt und hunderte Millionen von Dollar verdient werden, und ich sage bewusst verdient, denn der Umsatz liegt natürlich noch einmal um ein vielfaches höher, dort tummelt sich Korruption, bestimmen einige wenige Mächtige, wie dieses Geschäft zu laufen hat.“

Ich musste irgend ein Signal in meiner Mimik ausgesendet haben, das ihn zum Weitersprechen aufforderte. „Das sind die Leute im Schatten“,  sagte er, die Stimme verschwörerisch senkend, und leise, kaum vernehmbar fortfahrend: „Wir nennen sie die Schattenmänner. Andere sagen Zuckerbarone zu ihnen. Gefährliche, skrupellose und eiskalte Geschäftsleute, die über Leichen gehen, sollte es jemand wagen, sich ihnen in den Weg zu stellen. Wollen Sie wirklich noch mehr hören?“, fragte er mich sichtlich zögernd. Ich verspürte ein kribbeln in der Bauchgegend, untrüglich Gefahr signalisierend, aber ich konnte nicht anders und sagte: „Ja, bitte, ich muss es wissen!“

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