Die nächsten Tage bis zu unserm Abflug hörte ich noch eine Menge über Zucker. Du kannst aus Blantyre nicht einfach so jeden Tag in jede Richtung fliegen. Das geht vielleicht nur zweimal die Woche und wenn du Pech hast, bleibst du hängen, weil genau deine Maschine einen Defekt hat oder erst gar nicht in Blantyre angekommen ist. Der informierte Vielflieger weiss natürlich, Blantyre konnte nur von Flugzeugtypen mit hochliegenden Triebwerken angeflogen werden. Das lag am Sand neben der Piste. Da wirbelt es jedes mal derartige Mengen davon auf, dass andere Maschinen zwar landen, aber nicht mehr hätten starten können oder nur mit hohem Risiko. Bei uns war es so, dass wir gute sieben Stunden warten mussten, bis einige Mechaniker und Ingenieure auf den Vorplatz schlurften, wieder zurück kamen, ihre Häupter bedenklich wiegten, bis dann schließlich der Kapitän, ein Holländer, über Lautsprecher bekannt gab, wir bräuchten uns keine Sorgen zu machen, jetzt würde es gleich so weit sein. Ich kann dazu nur sagen, nach der bewährten Paris/Kinshasa Methode kippten wir uns mit Schottischem zu, den gab’s reichlich im Duty Free, und ignorierten die Situation und alles, was der Kapitän die nächsten Stunden von sich gab. Irgendwann starteten wir und sind heil in Nairobi gelandet. Das war meistens der Zwischenstopp, bevor es weiterging nach Frankfurt oder München.

Nairobi, hatte man mir in Blantyre noch mitgegeben, spiele im internationalen Zuckergeschäft eine nicht unbedeutende Rolle. „Dort treffen sich regelmäßig einige der Schattenmänner, um Beschlüsse über Marktregulative zu treffen.“ Ich hatte bis dahin nicht gehört, Kenia habe eine Bedeutung beim Anbau von Zuckerrohr. Kaffee und Tee ja, Zuckerrohr auch, aber in geringen Mengen, Fischfang sicher. Insgesamt auf die Größe des Landes bezogen, erbringt Landwirtschaft aufgrund der trockenen Böden und Wasserknappheit nur einen bescheidenen Ertrag. Inwiefern spielt da Zucker eine Rolle?

Ich bekam einen Grundkurs in Sachen Zucker, danach verstand ich die Zusammenhänge etwas besser, aber keinesfalls tief genug. Zucker sei mehr als nur süss. „Schauen Sie, gehen Sie mit wachsamen Augen durch das Land, überall begegnet Ihnen Zucker.“ Ich schaute ungläubig, überall Zucker? Mein Gesicht musste diese Frage deutlich signalisiert haben, denn mein Gesprächspartner fuhr fort: „Gehen Sie in ein Kaufhaus, was begegnet ihnen? Zucker. Zucker als Schokolade, Zucker in allen Arten von Süssigkeiten, Zucker in Getränken, in Fruchtsäften, im Ketchup, in Speisen, ja sogar in allen möglichen Lebensmitteln als Zusatz, zur Geschmacksverstärkung, als Konservierungsmittel und vieles mehr. Und vergessen Sie nicht das Übriggebliebene bei der Gewinnung von Zuckersaft, es wird verarbeitet in der Möbelindustrie, In Spanplatten und so weiter. Ja sogar in Kleidung finden sie diesen Rest, um das noch anzufügen!“

„Und was hat das mit Nairobi zu tun?“, wollte ich wissen. „Gar nichts. Nicht mit der Stadt oder dem Land. Nairobi ist einfach ein praktischer Ort, um sich zu treffen, hier in Afrika. Man könnte es auch in Südafrika machen oder anderswo, aber man trifft sich eben in Nairobi. Da tappt man mit dem Thema Zucker in niemandes Pfründe, verstehen Sie?“ Das verstand ich. Eine Art neutraler Boden, für diese Leute, genannt Die Schattenmänner. Ich hörte noch, lokale Größen profitierten durchaus auch von diesen Meetings. Keine Zusammenkunft ohne Obolus an diejenigen, die es duldeten. „Stellen Sie sich vor, wir beide wären so mächtig, dass wir die Menge des Anbaus von Zuckerrohr oder die Effizienz bei der Gewinnung von Zuckersaft bestimmen könnten, dann gehörten wir zu diesem erlauchten Club.“ Ich staunte. „Noch eines, dann sollte es für heute genug sein. Wer Zucker herstellt, dem gehört auch die verarbeitende Industrie, zumindest große Anteile davon. Vielleicht können Sie sich jetzt vorstellen, wer dort tagt?“

Ich stellte mir vor, diese Leute müssten tatsächlich irgendwie mächtig sein und Einfluss besitzen, aber einen wirklichen Bezug konnte ich nicht herstellen. Das änderte sich, als ich Tage später erfuhr, die Macht der Schattenmänner liege primär darin, sie nicht zu kennen. Sie arbeiten im Verborgenen, erteilen Direktiven und halten die Fäden in der Hand. Sie sind sich manchmal spinne Feind, wenn es um Marktanteile geht, verstehen sich aber blenden bei der Manipulation der Märkte. Sie halten Zucker knapp, um den Preis in die Höhe zu treiben, sie produzieren auf Teufel komm raus, wenn der Preis fallen soll. Das passiert Länder und Regionen spezifisch. Sie nutzen jede noch so winzige Chance, um Staatliche Fördergelder zu kassieren und sie produzieren Süssigkeiten ohne Ende, manipulieren den Verbraucher mit teuflischen Werbetricks, machen die Menschheit krank mit ihren Zuckerbomben. „Wir sprechen und hören von Genussmitteln. In Wirklichkeit sind es Bomben, die uns täglich treffen. Ihre Wirkung ist schlimmer noch, als jede Streuwirkung konventioneller Bomben, wie sie zu tausenden in Kriegsgebieten abgeworfen werden, denn sie wirken hässlich, im Verborgenen, nicht sofort erkennbar, und sie bringen den unweigerlichen Tod in Form von Diabetes und Bluthochdruck aufgrund von Übergewicht und gravierender Störungen im Stoffwechsel.“ Das war die eindringliche Botschaft des Mannes aus Blantyre. Und er sagte noch: „Sind Sie vorsichtig, wer sich mit diesen Leuten anlegt, ist schneller tot, als ihn eine Diabetes hinweggerafft hätte!“

Meine Kollegen hatten Anschlussflüge in verschiedene Richtungen, Ich dagegen wollte noch ein paar Tage in Nairobi bleiben. Es gab zwei Gründe hierfür: Einmal wollte ich mir die Sonnenfinsternis nicht entgehen lassen, ein Naturschauspiel, das sich am nächsten Tag ereignen sollte, und der Besuch beim örtlichen Repräsentanten unserer Firma. Ein dritter kam hinzu. Im Interconti, das Hotel, in dem ich mein Zimmer hatte, fand am Abend eine Konferenz statt, zu der niemand Zutritt bekam, der nicht geladen war, und in die ich trotzdem hineinplatzte. Ein Zufall, werden Sie sagen. Vielleicht war es aber mehr als das. Ich hatte Blut geleckt und sah an jeder Ecke Berge von Zucker, Süssigkeiten, sich balgende Kinder, die sich das Zeug in ihre Münder stopften, immer mehr, bis sie schließlich zerbarsten.

Der Eingang des Hotels und jedes der Stockwerke war von bärenstarken, bewaffneten Männern in Uniform bewacht. Wer aus einem der Aufzüge ausstieg, musste seine Zimmerkarte vorweisen. Wir waren sicher dort, die Schattenmänner auch.

Foto von Juergen Reiter