Ich rechnete mit dem Schlimmsten und hatte doch eine vage Hoffnung. Der Fahrer! Wenn ich nicht zurückkäme, er würde sicher nach mir fragen, Alarm schlagen. Erstaunlich war, ich verspürte keine Panik. Es war irgendwie so, als müsste ich etwas tun, das mir unangenehm ist, es aber trotzdem mache. Jeder kennt das Gefühl, wie es ist, wenn man seinem Chef zum Beispiel sagen muss, man habe einen Fehler begangen oder du musst die Polizei rufen, weil du einen Unfall verschuldet hast. So ähnlich war das. Sie bugsierten mich zu einem Hinterausgang, überlegten es sich auf halber Strecke dann aber anders und schoben mich wieder zurück. Ich verstand dieses Manöver nicht die Bohne, bis ich mitbekam, dass einer der Männer offensichtlich anders lautende  Instruktionen über seinen Ohrstöpsel erhalten haben musste. Praktisch diese Dinger, dachte ich, funktioniert beinahe, wie die Fernbedienung eines Roboters.

Die Männer waren keine Roboter, sehr real standen sie vor mir. Unschlüssig, was nun mit mir zu geschehen habe, drückten sie mich auf einen Stuhl. Der mit dem Ohrstöpsel schien eine weitere Instruktion erhalten zu haben, denn er gab seinem Kollegen ein Zeichen und sagte zu mir, ich solle warten, dann verließen sie den Raum. Es tat sich nichts. Die Sekunden verrannen zu Minuten. Nichts! Schliesslich stand ich auf, ging zur Türe, dreht den Knauf und öffnete. Weit und breit niemand, der mich  gehindert hätte, einfach zu gehen. Ich ging nicht. Entfernt nahm ich den Lärmpegel vom Buffet wahr. Es waren also noch Leute hier, logisch, seit meiner Entdeckung waren vielleicht gerade mal 20 Minuten verstrichen.

Neugierig folgte ich dem Geräuschpegel und traf ohne Mühe auf den Rest der Zuhörerschaft von vorhin. Rest war die richtige Bezeichnung, denn vom Konsortium der Schattenmänner und ihrer Security-Mannschaft war keiner mehr anwesend. Machten sie es hier, wie in Nairobi? Was nicht zu beweisen war, hat auch nicht stattgefunden? Die anderen, hier noch am Buffet Verweilenden, würden nichts bestätigen, davon war ich überzeugt. Sie kamen alle aus der gleichen Ecke und eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus, zumal solches vermutlich auch höchst gefährlich gewesen wäre.

Was konnte ich noch tun? Mich darauf zu verlassen, der Zufall käme mir ein weiteres Mal zu Hilfe, schien mir etwas dürftig. Ich hatte nicht die Mittel für eine Jagd um den Globus, auf den Verdacht hin, diese Klique ein weiteres Mal aufzuspüren. Und selbst wenn, was hätte ich gewonnen? Ihre Taktik schien eine einfache zu sein. Sie entzogen mir ganz einfach jede Handhabe, etwas gegen sie zu unternehmen. Kein Journalist, keine Zeitung, kein Magazin würde meiner Geschichte ohne die nötigen Beweise irgend einen Glauben beimessen.

Am Buffet hatte ich noch gehört, wie zwei sich unterhielten und eine Theorie entwickelten, die ohne weiteres auch von den Schattenmännern hätte stammen können. Ihrer Meinung nach lag ein hohes Potenzial zur Umsatzsteigerung im geschickten Einsatz von Süssstoff. Sie nannten eine Reihe von Namen, von denen ich einige behalten habe und wovon einer wiederum besonders schädlich für den menschlichen Organismus war. Aspartam, 200 fach höhere Süsskraft als gewöhnlicher Zucker. Etwa 90 Länder verwenden diesen Süssstoff in rund 9.000 Nahrungsmitteln. Das ergaben meine Recherchen und noch etwas hatte ich herausgefunden, gerade dieser Süssstoff ist in höchstem Maße gesundheitsschädlich. Kopfschmerzen, Übelkeit, Gewichtszunahme, Schlaflosigkeit, Schwindelanfälle und Atmungsschwierigkeiten oder Sehstörungen sind nur einige der Folgen des Konsums dieses Mittels für den Menschen. Eine  Studie belegt sogar, dass Süssstof-Konsumenten im Vergleich zu jenen, die normal Zucker zu sich nahmen,  nach einem Jahr deutlich mehr Gewicht zugelegt hatten. Fluggesellschaften verboten ihren Piloten, Getränke mit Aspartam zu sich zu nehmen.

Das System Zucker schien auf eine subtile Art zu funktionieren, fein strukturiert und schwer zu durchschauen. Eines war jedoch sicher, die Zuckerlobby mit all ihren Auswüchsen und Anhängen war mächtig, vielleicht sogar die mächtigste in der Welt. Ihre Köpfe waren nicht zu greifen, agierten im Verborgenen, und machten Profit ohne Ende. Ich hing meinen Gedanken nach und bemerkte das Geräusch der sich öffnenden Türe erst viel zu spät. Im Hotel reagierst du sowieso anders, als das zuhause der Fall ist. Instinktiv meinst du, es müsse irgend ein Service sein. Es war keiner. Zwei Männer standen im Zimmer und sagten, ich solle mitkommen, man möchte mit mir sprechen. Wer oder was immer auch man war, meine Alternativen waren mehr als begrenzt, also ging ich mit.

Wir fuhren nur wenige Minuten. Ich sass hinten. Die Scheiben getönt und ein zusätzlicher Vorhang verhinderte zu erkennen, wohin die Fahrt ging. Wozu der Firlefanz, fragte ich mich, als wir am Hafen ausstiegen. Meine Begleiter rechts und links von mir. Über eine Gangway betraten wir eine ansehnliche Motoryacht, das heißt meine Begleiter blieben am Fuße der Gangway zurück. „Kommen Sie mit“, sagte eine mir vertraute Stimme, deren Klang ich folgte. Die Person zur Stimme war nicht auszumachen. Ich folgte einer schmalen Treppe ins Innere des Bootes und fand mich in einem komfortabel eingerichteten Saloon wieder. Zwei Männer waren anwesend. Den einen kannte ich nicht, der andere war unser lokaler Repräsentant.

„Darf ich Ihnen Mister“, er sagte einen spanisch klingenden Namen, „vorstellen.“ Verblüfft fragte ich, was das ganze sollte. Er zeigte auf den Man mit dem spanischen Namen und sagte mit einem Lächeln: „Sie haben scheinbar die Gabe, zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort zu sein.“ „Wie meinen Sie das?“, fragte ich und er bestätigte, was ich schon vermutete. „Sie stecken Ihre Nase in Dinge, die Sie nichts angehen und von denen Sie auch nichts verstehen. Mein Gast hier beklagt sich darüber  und meint, er wolle das nicht länger hinnehmen.“ „Wieso Ihr Gast …?“, fragte ich etwas belämmert. „Wir arbeiten auf manchen Gebieten zusammen. Mein Gast pflegt Verbindungen, die unserer Firma große Aufträge zukommen lassen und eben diese Verbindungen fühlen sich durch ihr zweifelhaftes Engagement belästigt.“ „Was soll ich Ihrer Meinung nach tun?“ „Sie müssen nichts tun, das wird mein Gast für Sie erledigen.“ Ich verstand nicht und sagte dies auch. „Warten Sie es ab. Wir machen jetzt eine Bootsfahrt, dann werden Sie verstehen.“ Schlagartig war ich mir der Gefahr bewusst. Boot, Meer, sie werfen dich über Board, hämmerte mein Gehirn.

Der Gast zog plötzlich eine Pistole, richtete sie auf mich und sagte in einem breiten Englisch, ich solle mitkommen. Wenn du keine Optionen hast, ist die Entscheidung leicht. Ich stolperte die Stufen der schmalen Treppe wieder hoch. Eigenartig, irgendwie schien sie mir jetzt länger zu sein und gewunden. Vielleicht hatte ich es bei der Ankunft nicht bemerkt. Das Boot hatte Fahrt aufgenommen und sehr schnell den Hafen hinter sich gelassen. Szenen geisterten durch meinen Kopf, als es zu Zeiten der Militärjunta zu Massenabwürfen von Regimegegnern gekommen sein soll. Man habe sie in Frachtmaschinen gezwängt, betäubt und über dem offenen Meer abgeworfen. Frass für Raubfische, mehr nicht. Keine Spuren, nichts, was zurückgeblieben wäre. Ein ähnliches Schicksal würde ich zweifellos in wenigen Augenblicken auch erfahren. Keine Hilfe, nirgend wo. Einsamkeit, Trauer, dass es so enden würde, mein noch junges Leben, Gedanken an die Familie, Abschied! Ich sah wie der Gast die Pistole hob, sah seinen Zeigefinger, der sich langsam dem Abzug näherte, ihn erreichte, sich um ihn krümmte, ihn durchzog.

Der Schuss brach, ein ohrenbetäubender Knall. Stille. Es dauerte eine ganze Weile bis eine zwingende Frage mein Gehirn erreichte: Wieso hast du den Schuss gehört? Meine Logik sagte: Ein tödlich Getroffener hört den Schuss nicht, der ihm das Leben raubte. Geschwindigkeit des Geschosses, Überschall. Der Tod tritt ein, bevor die Schallwellen das Ohr erreichen. 

Du lebst, bist nicht tot! Ich fing an zu zittern, immer heftiger, ohne jede Kontrolle. Der Gast stiess ein höhnisches, hässliches Lachen aus, seine Gestalt fing an, sich zu drehen, immer schneller, verwand sich in sich selbst, wurde zu einem Strang, fiel wie ein Stück Tau auf den Boden. Das Boot, es schien sich aufzulösen, das verzerrte Gesicht unseres Repräsentanten zwischen den Bohlen, irrlichternde Augen bis zum Wahnsinn hervorquellend. Mein Herz raste, mein Atem nur noch Schübe, immer kürzer werdende Schübe, Verzweiflung, das Boot, kein Halt, die unweigerliche, gierige Tiefe des Meeres, schwarz und unnahbar. Das Ende.

Schweissgebadet kam ich zu mir, fand endlich heraus aus diesem Teufelskreislauf, lag auf meinem Bett im Hotel und atmete stossweise. „Ruhen Sie sich ein wenig aus“, hatte der Repräsentant unserer Firma bei meiner Ankunft gesagt, „und machen Sie sich frisch, wir sind heute Abend eingeladen. Ich hole Sie später ab.“

Foto von Juergen Reiter