Winzige Gedankenblitze mühen sich wieder und wieder, das Unüberwindbare zu durchdringen. Grelles Licht stemmt sich entgegen, wie ein Schutzwall, der Ferdinands Seelenfrieden zu bewahren sucht. 

Allmählich gewinnen Konturen, verschwommen noch, die Oberhand und das rhythmische Flirren der Augenlieder verrät den Übergang in die reale Welt. 

Ferdinand macht die Umrisse von Gitterstäben aus, registriert die großen Fenster, die gleißende Sonne und versteht plötzlich seine Misere.

Du bist eingesperrt, sagen seine Gedanken. Es gibt kein Entkommen!

Ein leises Klopfen unterbrach sein Zwiegespräch.

Ferdinand hörte eine weibliche Stimme, verstand aber den Tenor nicht. Bevor er noch weiter darüber sinnieren konnte, öffnete sich die Tür und eine Frau um die Vierzig betrat das Zimmer.

„Grüße Sie, Herr Weidenbaum“, sagte die Frau mit einem freundlichen Lächeln und blieb in der Mitte des Zimmers stehen, als wolle sie eine gewisse Distanz wahren. 

„Was ist los…, was ist geschehen…, wo bin ich?“, stammelte Ferdinand orientierungslos.

„Sie sind hier im Isar-Amper-Klinikum Haar“, erklärte die Frau, die Mitte des Zimmers nicht verlassend.

„In Haar…? In der Psychiatrie…?“

„Ja. Die Polizei hat Ihre Einweisung verfügt,“

„Die Polizei? Was um Gottes Willen…, warum denn…?“

Gedankenfetzen kehren zurück, schließen Erinnerungslücken und versorgen Ferdinand schonungslos mit den Tatsachen seines Hierseins.

„Aber, weshalb wollte ich das tun? Warum von der Brücke…?“

„Deshalb bin ich hier“, sagte die Frau schlicht. „Ich bin Doktor Isabella Werth. Ich arbeite hier und beschäftige mich mit den Hintergründen von suizidalem Verhalten.“ 

„Es stimmt, ich sehe es jetzt wieder ganz deutlich, aber ich kann nicht sagen, warum ich es tun wollte. Ich verstehe es nicht!“, stieß Ferdinand beinahe keuchend hervor.

„Quälen Sie sich nicht, nehmen Sie sich Zeit! Ich lasse Ihnen ein Heft und einen Stift hier. Wann immer Ihnen etwas einfällt, schreiben Sie es einfach auf. Wir werden es herausfinden, Sie werden es herausfinden und ich werde Ihnen dabei helfen…, einverstanden?“

Frau Dr. Werth grüßte und sagte im Hinausgehen, dass er auch hier wäre, um sich zu erholen und wieder in den normalen Alltag zurückzufinden.

Ferdinand ging ein paar Schritte im Zimmer hin und her, um sich dann in einen Sessel zu fläzen. Nicht einmal unbequem, dacht er. Tatsächlich war die Einrichtung eher spartanisch, aber nicht geschmacklos. Kameras hatten das Geschehen jederzeit im Fokus.

Erst gedankenlos, dann überlegt, mühte Ferdinand sich, dem Wirrwarr seiner Gedanken eine Struktur zu geben. Der Stift flog über die Seiten des Heftes und sehr bald schon fühlte er sich entspannt, ja, irgendwie beruhigt.

Soweit es ihm möglich war, schritt Ferdinand zurück und suchte nach Erinnerungen an seine ersten Lebensjahre. Vieles blieb schemenhaft, manches trat ihm klar vor Augen. Kein Zweifel, er fand sich selbst privilegiert. Eine tadellose Kindheit, wie er fand, nichts auszusetzen, liebevolle Eltern, keine Geschwister, keine Probleme in der Schule, und so weiter, bis zum Beginn des Studiums kein ungewöhnliches Ereignis. Seine Welt war schlicht in Ordnung.

Ja, selbst die Zeit an der Universität wies nichts Außergewöhnliches auf. Regelstudienzeit, keine Wiederholungen, alles stets fristgerecht absolviert.

Ich bin ein völlig normaler Mensch, schrieb er ins Heft.

Nach dem Studium mehrere Stellenangebote, wer hat das schon? Nie Zwist mit Vorgesetzten. Ja, selbst dann nicht, wenn er für eine Frau arbeitete. Der Regelbetrieb an der Universität war für ihn nicht Ballast, sondern willkommener Alltag. 

Du hast keinen Burn Out, von was auch? Du liebst deine Arbeit, hast deine Doktorarbeit mit Auszeichnung geschrieben, arbeitest an deiner Habilitation. Was willst du eigentlich? 

Ferdinand legte das Heft zur Seite. Es tat ihm gut. Die klaren, einfachen Sätze, mit denen er die wichtigen Meilensteine seines Lebens skizzierte. 

Aber, was war falsch? Was war aus dem Ruder gelaufen? Warum steigt ein Mensch, warum stieg er auf diese Brücke, um sich in den Tod zu stürzen?

Niemand macht das grundlos! 

Du musst weitersuchen, den Grund finden!, hämmern Ferdinands Gedanken. Es darf nicht wieder vorkommen! Verstehst du, niemals wieder!

Selbst mit Frauen hatte er keine Schwierigkeiten. Derzeit gab es zwar keine feste Beziehung, aber es bahnte sich etwas an. Erika, er hatte sie kürzlich kennengelernt. Sogar die Trennung von Valencia war problemlos verlaufen. Sie war nach Australien gegangen – ein Lebenstraum, mehr nicht. Fertig, kein Abschiedsdrama, nichts.

Für heute war es genug. Ferdinand legte das Heft und den Stift sorgfältig in eine Schublade, die verschließbar war. Verschließbar, in einer Irrenanstalt?, schoss es ihm durch den Kopf.

Isabella Werth war pünktlich. Und wieder verharrte sie in der Mitte des Zimmers.

Merkwürdig, dachte Ferdinand. Warum setzt sie sich nicht einfach auf einen Stuhl?, aber er fragte nicht und ließ sie stehen, wo sie war. Nicht seine Sache.

„Sind Sie vorangekommen?“, fragte sie, „ich meine mit der Erforschung der Gründe für Ihr Handeln?“

„Ja und nein“, antwortete Ferdinand nach einer oder zwei Sekunden des Überlegens.

„Was meinen Sie mit ja und nein? Wollen Sie darüber sprechen?“

„Nun, ich habe versucht, mein Leben zu erinnern. Verstehen Sie, zurück bis in die Kindheit, aber ich konnte nichts finden, was Auslöser für meine geplante Tat hätte sein können. Ich hatte nie Probleme, keine Schwierigkeiten, in keinem Alter und in keiner Lebenslage. Lief alles immer glatt.“

„Hm, nichts, wirklich nichts? Vielleicht etwas, das Sie verdrängt haben und deshalb für den Augenblick nicht erinnern können?“

„Mag sein, aber wie soll ich Ihre Frage beantworten, wenn ich, aus welchen Gründen auch immer, keine Erinnerung daran habe?“

Ja, natürlich können Sie das nicht. Ich meine nur, es könnte sein, nicht wahr?“

„Es könnte sein, vieles könnte sein, vieles könnte auch nicht sein. Vielleicht wollte ich es einfach nur ausprobieren? Ob ich es tatsächlich machen würde, unumkehrbar, ultimativ oder mich am Ende der Mut verließe?“

„Denken Sie weiter nach! Ich komme morgen wieder.“

Und so vergingen die Tage. Doktor Isabella Werth besuchte ihn jeden Tag zur gleichen Zeit, blieb in der Mitte des Zimmers stehen, ließ ihn reden, stellte Fragen, dann ging sie, um am nächsten Tag wieder zu kommen.

Zwei Wochen war Ferdinand nun schon hier. Er dachte tatsächlich viel nach und er lernte schnell, wie sein Gehirn funktionierte, zumindest eine Besonderheit fiel ihm auf. Je angestrengter er sich auf ein Thema konzentrierte, und glaubte, ein bestimmtes Ergebnis erzielen zu müssen, desto weniger gelang es ihm. Es ermüdete ihn und nicht selten verlor er dann die Lust, weiter nachzudenken. 

Dagegen war es ganz einfach, Dinge sacken zu lassen, wie er es nannte, sich anderen Themen zuzuwenden und nicht partout auf einem Resultat komplizierter Denkvorgänge zu beharren. Und wie aus dem Nichts blitzten plötzlich mitten hinein in völlig andere Denkprozesse oder auch einfach, wenn er dem süßen Nichtstun frönte, Resultate aus früheren, abgebrochenen, abgesackten Denkvorgängen, gerade so, als hätten sich Bereiche seines Gehirns völlig unbewusst mit diesen Themen weiter beschäftigt und fänden es nun an der Zeit, die Ergebnisse ihrer Arbeit mitzuteilen.

„Setzen Sie sich doch!“, forderte Ferdinand Isabella Werth dieses Mal auf. „Sie stehen da immer, wie eine Statue. Ich möchte Ihnen etwas sagen.“ Und er berichtete ausführlich über seine Feststellung.

Isabella Werth lächelte wissend, unterbrach Ferdinand aber mit keiner Silbe.

„Ich weiß nun, warum ich auf die Brücke gestiegen bin, und ich werde es Ihnen erzählen.“

„Ich habe damit gerechnet, dass Sie es herausfinden werden. Sie haben sehr hart dafür gearbeitet und ich bin gespannt – erzählen Sie!“

„Es scheint banal, wenn ich es recht betrachte, aber das ist es nicht. Sehen Sie, ich habe es ins Heft geschrieben, ich habe Ihnen davon berichtet: In meinem Leben lief alles immer und immer wieder ab, wie programmiert, ohne Tadel, ohne Fehler, ohne Probleme. Ich habe den Sinn meines Lebens nicht mehr verstanden. So habe ich den Plan gefasst, meinem Leben eine neue, ultimative Richtung zu geben. Und was könnte ultimativer sein, als der Tod? Wenn es auch nur für einen unumkehrbaren Augenblick wäre, von der Brücke zu springen und nichts mehr dagegen tun zu können, das Leben hinzugeben, um es zu befreien, ja, um ihm einen neuen Sinn zu geben, den Tod.“

Isabella Werth folgte den Ausführungen Ferdinands mit angehaltenem Atem. Niemals hatte sie bei einem ihrer Patienten so viel Emotion, so viel Wahrheit gespürt.

„Es bleibt noch eine Frage offen“, sagte sie.

„Ich weiß“, entgegnete Ferdinand, „würde ich es wieder tun?“

„Ja, das ist die entscheidende Frage. Sie haben es exakt erfasst!“

„Nein! Ich würde es nicht wieder tun. Ich habe die Antwort auf mein Lebensziel gefunden, also gibt es keinen Grund mehr, es wiederholen zu müssen, nicht in meiner Welt. Ich weiß jetzt, dass wir zu kurz denken, wenn wir nur die vordergründigen, vermeintlich wichtigen Dinge betrachten. Das Leben ist mehr, viel mehr. Es zu vergeuden oder gar hinzuwerfen, den schmalen Grat zu überschreiten, würde ihm nicht gerecht werden. Es bietet so viel mehr, wir müssen es nur wollen!“

„Packen Sie Ihre Sachen, Sie können nach Hause. Ich habe keine Sorge mehr um Sie!