Dagmar Hochfellner und ihr Team waren bereits vor Ort.

Die Kollegen der Spurensicherung in ihren weißen Overalls wirkten irgendwie bizarr, ja unwirklich, wie sie mit den Kameras, Maßbändern und Plastiktüten hantierten, in die sie Dinge vom Tatort hineinpackten und per Zip verschlossen.

Hinten in der Grube lag er noch immer, genauso, wie ihn der Willi aufgestöbert hatte. Der Willi, eine Mischung aus mehreren Rassen, einem Schäferhund aber noch am Ähnlichsten, war, wie jeden Morgen, mit dem Hinterhofer Xaver an der Isar Gassi gewesen.

Und plötzlich ist er wie verrückt zu dieser Grube gelaufen. Der Herr Hinterhofer hat sich erst gar nichts dabei gedacht, wie der Hund aber dann schwanzwedelnd zurückkam und der Herr Hinterhofer sah, was sein Willi da im Maul hatte, wurde es ihm richtig plümerant, klärte der Assistent die Hauptkommissarin auf. Genau so hat er mir’s berichtet, fügte er noch an. Blümerant, das heißt blümerant, mit einem weichen B, korrigierte Dagmar Hochfellner ihren Assistenten.

Aber, erzähl weiter!, ermunterte sie den jungen Mann, auf den Punkt zu kommen. Ja, sehen Sie, Frau Hauptkommissarin, Dagmar Hochfellner war kurz versucht, ihn zu unterbrechen, unterließ es aber, und nickte ihm stattdessen zu, ja also, um es direkt zu sagen, der Hund, also der Willi…

Kommst du mal rüber!, rief einer der Kollegen. Einen Augenblick, sagte Dagmar, bin gleich zurück, und eilte hinüber zur Grube. Schau dir mal den Toten an, sagte der Kollege, dem fehlt ein Ohr, präzise das linke. Merkwürdig! Der Willi!, durchzuckte es Dagmar.

Zurück in der Maillinger Straße, in München, saß das Team versammelt in einem der Besprechungszimmer des LKA. Die Spurensicherung hatte keine Hinweise auf eine Fremdeinwirkung erbracht, bis auf das Ohr…! Ja, das Ohr, sagte Dagmar und klärte die Leute auf, weswegen es dem Hinterhofer Xaver blümerant, also flau, geworden war.

An was ist der denn gestorben und vor allem wann?, fragte einer aus der Runde.

Ja, das ist eben auch wieder merkwürdig, meinte ein anderer und erläuterte, was der Gerichtsmediziner ihm vor wenigen Minuten erläutert hatte. Danach sah alles nach einem akuten Herzstillstand aus, der den Mann praktisch wie aus dem Nichts dahingerafft hatte. Und das nur vielleicht zwei Stunden bevor der Willi mit dem Xaver die Isar längs kam.

Chronisch unterbesetzt entließ Dagmar Hochfellner ihre Leute, war aber selbst von der Variante, Tod durch Herzversagen, alles andere als überzeugt.

An der Isar, da erholt man sich, verstehst du, da fällt man nicht einfach tot um!, sagte sie, und deshalb werden wir zwei Hübschen die Sache weiterverfolgen!

Als Erstes stellen wir die Identität des Toten fest. Das müssen wir sowieso machen, sagte sie. Fingerabdrücke, Genanalyse, Zahnabdrücke und so weiter, weißt eh. Dagmars mahnender Blick verhinderte gerade noch, dass der Assistent mit einem Jawohl, Frau Hauptkommissarin, antwortete.

Dagmar seufzte und resümierte, dass es wohl für alle Zeiten aussichtslos bleiben würde, dem Assistenten das Du beizubringen. Hier in der Abteilung duzen wir uns alle!, hatte sie dem jungen Mann immer wieder beizubringen versucht, vergeblich.

Kurzentschlossen rief Dagmar in der Gerichtsmedizin an. Tatsächlich gibt es den Sekundentod, erfuhr sie. Häufigste Ursache sei eine Verkalkung der Herzkranzgefäße, bekannt unter der Bezeichnung koronare Herzkrankheit. Und, meinte der Amtsarzt, der kommt, wenn es soweit ist, ob an der Isar oder sonst wo! 

Natürlich hatte sie noch wissen wollen, ob man selbiges Ableben auch anderweitig herbeiführen könnte, durch ein nicht nachweisbares Gift zum Beispiel. Gift wäre durchaus eine Option, meinte der Amtsarzt, aber dass man es bei der Obduktion nicht nachweisen könne, das wäre schon sehr unwahrscheinlich.

Drei Tage später wußte Dagmar mehr, schlauer war sie deshalb aber nicht geworden. Der Befund lag vor: Keine Verkalkung und kein Gift. An was oder vielmehr warum war der Mann an der Isar gestorben?

Der Assistent war fleißig gewesen und so wußten sie wenigstens, wer der Tote war. Auf zu den Eltern, sagte Dagmar. Adoptiert, mia ham ihn adoptiert g’habt, sagte die Frau. Mei Mo is scho lang gschdoam, bin Witwe, war ihr Kommentar. Eam, und sie meinte zweifellos den Adoptivsohn, hab‘ ich scho ewig nimma g’sehn! Der hat sich eher selten bei mia g’meldet. Außerdem hat a g’suffa und a Rumtreiber wars a, soviel ich weiß.

Übersetzt ins Hochdeutsche war der Tote also ein Nichtsnutz gewesen. Die Adoptivmutter musste sich irren. Teurer Anzug, teure Schuhe, alles vom Feinsten, so hatten sie ihn in der Grube vorgefunden.

Der Obduktionsbericht! Dagmar eilte hinüber an ihren Schreibtisch, nahm das Exemplar und vertiefte sich darin. Unwillkürlich runzelte sie die Stirn. Beim ersten oberflächlichen Durchblättern waren ihr tatsächlich zwei wichtige Ergebnisse entgangen. Keine Anzeichen auf übermäßigen Alkoholgenuss oder Drogenkonsum, das Gerde der Adoptivmutter also Quatsch, aber hier: Linkes Ohr mittels Skalpell oder Ähnlichem abgetrennt…und minimale Rückstände im Muskelgewebe von einer Substanz, es folgte ein komplizierter lateinischer Ausdruck, die allgemein auch unter KO-Tropfen bekannt ist.

Der Willi, soviel war klar, der Willi hatte das Ohr zwar gebracht, aber nicht abgebissen. Der Mann war nicht vergiftet, wohl aber mit KO-Tropfen traktiert worden. Warum das Ohr?, fragte sich Barbara. Hatte man es ihm am Fundort abgeschnitten? Wozu?

Die Spurensicherung hatte nichts Verwertbares zutage gefördert. Da laufen bei schönem Wetter am Tag hunderte, wenn nicht tausende entlang, da findest vor lauter Spuren praktisch nichts. Die werfen alles Mögliche weg und das liegt dann eben auch am Tatort herum, vom Kaugummi über Kippen bis zu Tempos oder sogar Kleidungsstücke, Strümpfe, Schuhe, Jacken, einfach alles.

Jedes noch so winzige Fusselchen war registriert und in die Asservatenkammer verbracht, aber eben nichts dabei, was erkennbar auf einen Mörder hätte schließen lassen.

Wir wissen nicht, wie es passiert ist, aber dass es dort geschehen ist, wo der Mann lag, das ist nach dem Ergebnis der Obduktion zweifelsfrei. Sand und anderes Erdreich unter den Nägeln, Schmutz an den Schuhen, den Kleidungsstücken, ja sogar an Gesicht und Händen und, hört euch das genau an, keinerlei solcher Art Verschmutzungen in der Wunde am Kopf. Folglich hat man ihm das Ohr abgeschnitten, als er schon am Boden lag. Das Meeting war zu Ende und jeder ging wieder seiner Arbeit nach.

Dagmar und der Assistent saßen noch eine Weile in Gedanken versunken, als der junge Mann plötzlich sagte: Frau Hauptkommissarin, haben Sie schon einmal an die Mafia gedacht? Mafia, bei uns, hier in München, an der Isar?, erwiderte Dagmar erstaunt. Wie kommst du darauf? Wieder dieses Du-, Sie-Verhältnis, dachte Dagmar.

Ja, weil die Mafia das so macht. Die schneiden ein Ohr oder die Nase ab, um damit Abweichler oder Verräter zu stigmatisieren und andere zu warnen, die etwa Gleiches im Sinn haben.

Was Du so alles weißt, aber du könntest Recht haben. Dann wird es allerdings noch schwerer werden, den Fall jemals aufzuklären, vielleicht sogar unmöglich.

Derweilen saßen in einem Intercity nach Süden zwei Männer, der eine um die dreißig, der andere älter, vielleicht so um die fünfzig. Sie werden nichts finden, sagte der Ältere auf Italienisch. Und sie werden lange darüber nachdenken, wie wir es gemacht haben, ergänzte der Jünger und lachte verhalten vor sich hin. Es wird in den Zeitungen stehen und im Fernsehen berichtet, sagte der Ältere, und darauf kommt es an! 

Der Zug rumpelte über den Brenner, weiter nach Rom, weiter nach Neapel und immer weiter nach dem Süden. Abwechselnd sah man die Männer im Speisewagen, dann wieder im Abteil, Reisende eben, die gerne mit der Bahn fahren.

Schon lange vorher hatten sie bei einem Zwischenstopp unbemerkt einen Beutel in den Abfallbehälter eines Bahnhofes gestopft.

 

Foto: J.Reiter, München