Eine bayerische Silvestergeschichte

Der vierte Advent ist noch nicht ins Land gezogen, da beginnen die Damen und Herrn Komödianten, Kabarettisten und andere Darsteller, überall, wo sie eine Bühne ergattern, ihren bissigen Humor über uns  auszugießen. 2019 ist gelaufen und den Spassmachern ist’s recht so, denn ändern können auch sie nichts mehr. Wir können uns dem Spassgemetzel durch den Griff zur  Fernbedienung entziehen, was sich aber ggf. als Rohrkrepierer herausstellt, weil wir unweigerlich auf einem Kanal mit einer Liebesschnulzen-Wiederholung landen, die schon im Originaljahr vor 20 Jahren kaum zu ertragen war.

In Dingharting jedoch tut sich etwas!

Auf leisen Sohlen schleichen dunkel vermummte Gestalten durch die nächtlichen Gassen. Die spärliche Beleuchtung im Ortskern dringt kaum bis in die Ritzen des Basalts auf den Straßen und Wegen, geschweige denn, dass es die Umtriebigen kenntlich macht.

An der Scheune beim Adler, einer der ältesten Wirtschaften im Ort, fand der Spuk ein Ende. Eine Anzahl Männer und zwei Frauen hatten sich dort eingefunden. Die Lichter im Gasthaus waren längst gelöscht, niemand, der um diese Zeit noch bei einem Bier sass.

Also, dann gehen wir’s an!, sagte eine dunkle, kräftige Männerstimme. An die beiden Frauen gewandt: Ihr passt auf! Sollte wider Erwarten jemand auftauchen, gebt ihr das vereinbarte Zeichen!

Niemand tauchte auf. Niemand nahm Notiz von diesem merkwürdigen Treiben in der Nacht.

Ein verdeckter Beobachter, wohl in der Lage, dem forschenden Blick der Frauen zu entgehen, wäre verwundert Zeuge geworden, wie die Männer mit traumwandlerischer Sicherheit Kabel und Drähte verlegten, da und dort etwas in die Ritzen der alten Scheune Stopften, um unversehens so plötzlich zu verschwinden, wie sie aufgetaucht waren.

Der Gendarm hätte, ob solcher Art gemeldeter Beobachtungen, den Einwand geltend gemacht, dass es sich um eine wahrscheinliche Täuschung des Beobachters handeln müsse, weil die örtliche Strassenbeleuchtung nach dem Gemeinderatsbeschluss, wonach alle bisher so wundervoll hell leuchtenden Röhren und Birnen gegen dimmbare LEDs auszutauschen waren, für eine solche Beobachtung keinesfalls ausgereicht hätte. Zur Untermauerung seiner Argumentation hätte er weiter ausgeführt, dass sich die Bevölkerung bereits bei Anbruch der Dämmerung nur noch mittels Taschenlampen oder Stirnlampen, wie sie Höhlenforscher benutzen, durch den Ort bewegten und, ganz entscheidend, bürgerliche Initiativgruppen Vorlagen eingereicht hätten, wonach Fußgänger bei Dunkelheit Glocken, Hupen, Nebelhörner oder andere Lärmerzeuger als akustische Warnmittel mitzuführen und auch zu gebrauchen hätten.

Aber soweit kam es eben mangels anwesender Beobachter nicht.

Exkursion: Es könnte angeraten sein, die Zu- und Umstände im Freistaat durch wissenschaftliche Erhebungen zu verifizieren, um daraus allgemeinverbindliche Vorgaben für die Land- und Stadtbevölkerung zu erarbeiten. Insbesondere sollten neben den rein betriebswirtschaftlichen Bezugsgrößen der öffentlichen Energieversorger weitere Faktoren Berücksichtigung finden, wie, die Wohlfühl-Qualität (WQ) der Bevölkerung, der Anstieg der Unfallhäufigkeit (AU) aufgrund mangelhafter Beleuchtung, sowie der Anstieg der Belegung der örtlichen Krankenhäuser und der Landes-Spezialkliniken (KH/LS).

Bis zur Realisation könnte hilfsweise die im Verwaltungsblatt 4711/0815, Ziffer 1/III, Unterziffer 2/II, Absätze ii – nn hinterlegte mathematische Formel für stussologische Vorhaben zur Anwendung kommen. Daraus ergäbe sich nach der stussologischen Transkriptionstheorie die Transkribierte Tolleranzschwelle (R in Watt)   x  {(AU : (KH+LS) (WQ : 100)}

Bis zum Silvesterabend hätte eigentlich nichts weiter passieren sollen, das war jedenfalls der Plan.

Es wäre auch so geblieben, hätte es da nicht den Hundebesitzer Emanuel Weißkragen gegeben, der just am Heiligen Abend zur später Stunde noch eine Runde ums Haus drehte. Entgegen den Gepflogenheiten weder mit Taschenlampe noch Stirnlampe. Dafür war Waldemar, sein Hund, mit einem Leuchthalsband ausgestattet, das jede öffentliche Laterne vor Neid erblassen ließ.

Wie üblich, schoss Waldemar, kaum von der Leine, wie ein Pfeil davon.  Er schien Augen wie ein militärisches Nachtsichtgerät zu besitzen, denn trotz Dunkelheit fand er immer seinen Weg und genoss es, die Straßen weiträumig zu queren.

Emanuel Weißkragen hatte sich die Stöpsel in die Ohren gedrückt, um sich von einem Hörbuch in Bann schlagen zu lassen. Wen es interessiert: Warum schweigen die Lämmer, der Titel.

Plötzlich, Waldemar war weit voraus an der Scheune, wie sein Halsband signalisierte, meinte Emanuel, etwas Unbekanntes, oder besser Unerklärliches wahrzunehmen. Kabel. Im Schein des Halsbandes traten für einen Augenblick, kein Zweifel, Kabel oder Drähte in sein Blickfeld. Jetzt wieder! Was auch immer es ist, es gehört da nicht hin!, hämmerte sein Gehirn.

Aber es war zu spät! Ein fürchterlicher Rums erschütterte unversehens die Stille der Nacht. Dann gleich noch einer, gefolgt von einem weitern, heftigen Knall, dessen Echo vom nahen Wald lautstark über den Ort zurückgeworfen wurde.

Sekunden Später waren nahezu alle Häuser in Dingharting hell erleuchtet. Nur die Straßenbeleuchtung blieb trübe wie zuvor.

Jaulend kam Waldemar Schutz suchend auf seinen Herrn zugelaufen, das Halsband immer noch hell leuchtend.

Verwundert starrte Emanuel Weißkragen auf die Scheune. Sie stand, wie eh und je, aufrecht und alt, wie seit ewigen Zeiten, nun aber umgeben von einem Ring, einem Mehr aus Licht, hell auflodernd, faszinierend, dann in sich zusammenbrechend, da und dort noch kurz aufflackernd, dann aus, Dunkelheit, Nacht.

Vereinzelt sah man Stirnlampen des Weges wanken, auch Taschenlampen darunter. Grüppchen diskutierten, was wohl geschehen sei. Niemand wusste eine Antwort. Nebelhörner vernahm man nicht.

Feuerwehr und Polizei waren inzwischen mit Getöse eingetroffen, aber es gab nichts zu löschen. Großscheinwerfer auf Lafetten leuchteten die Szene aus.

Tatsächlich, Emanuel Weißkragen sah jetzt ganz deutlich, was vorher nur schemenhaft zu ihm gedrungen war: Kabel und Drähte. Er pirschte sich näher heran, um Wortfetzen von Polizei und Feuerwehr aufzuschnappen.

Wir werden es näher untersuchen, hörte er den Chef der Truppe sagen. Er kannte ihn gut, Alois Hirngiebel, einer seiner Nachbarn. Die Anforderung für ein Expertenteam aus München ist schon raus.

Mir sieht das nach Feuerwerk aus. Ein großes, gekonntes Feuerwerk, meinte einer der Polizeiuniformierten, den Emanuel Weißkragen nicht persönlich kannte.

Zu Schaden ist, soweit ich sehen kann, nichts und niemand gekommen, bemerkte Alois Hirngiebel. Trotzdem müsst ihr absperren, wegen möglicher Spuren, wies er den Polizisten an.

Langsam verliefen sich die Leute, Stirn- und Taschenlampen wurden weniger und verschwanden schließlich völlig.

Ein paar Polizisten spannten ein Trassierband, die Feuerwehr rückte ab und Emanuel Weißkragen ging mit Waldemar nach Hause.

Eine Gruppe von Männern und zwei Frauen harrten im Schutze der Dunkelheit aus, in dunkles Zeug gehüllt, wie schon einmal. Wie konnte das bloß passieren?, stellte einer die entscheidende Frage. Ja, wie? Ich weiß es, ehrlich gesagt, auch nicht, sagte der Mann mit der dunklen, kräftigen Stimme. Aber so viel kann ich sagen, von selbst konnte die Zündschnur sich nicht entzünden! Da muss schon jemand nachgeholfen haben!

Schade um unseren Silvesterspass, klagte eine der Frauen.

Einer, der ebenfalls unerkannt in der Nacht verharrte, war Ferdinand Schlaubügel, ein durchaus angesehener Bürger der Gemeinde, gehörte er doch zum Kollegium am Gymnasium. Hauptfach Chemie.

Seit geraumer Zeit hatten sich manche Kollegen und Kolleginnen merkwürdig verhalten. Es war, wie sie Gespräche beendeten oder miteinander redeten, wenn er zufällig in die Nähe kam. Schön war’s gewesen, wie’s gerumst hatte und wie das Lichtermeer, wie von Geisterhand getrieben, empor wuchs, um kurz darauf in sich zu stürzen und zu versiegen.

Ich schau‘ euch weiter auf die Finger, flüsterte er, ging zurück ins Haus und verschloss die Türe.