Lass dich fallen! Du spürst, wie dein Körper immer schwerer wird, die Arme, die Beine, dein ganzer Körper … Im Hintergrund tönte leise J. S. Bach. Du gibst dich ganz der Stimme hin, die dich dirigiert, dir genau sagt, was du zu  tun hast. Du bist gefangen in dem wohltuenden Gemisch aus Stimme und Musik. Die Musik erreicht dein Unterbewusstsein, öffnet es für die Stimme. Diese Stimme, die gleichmäßig den Raum in deinem Gehirn einnimmt. … siehst du die Wiese vor dir? Du gehst auf sie zu, … du riechst  den Duft der Gräser, siehst die Blumen, riechst den betörenden Duft dieser überwältigenden Pracht an Farben, spürst die Wärme der Sonnenstrahlen, die dich völlig einhüllt …  Immer weiter folgst du den Anweisungen, längst der Realität entschlüpft, gehst du auf die Wand zu, durchdringst sie, wie die Stimme es dir aufträgt.

Die Welt um dich ist entschwunden, du weisst nichts mehr von ihr, bist nur noch dort, wohin die Stimme dich dirigiert und dann, plötzlich, absolute Stille. Ein Weile vernimmst du nichts, bis die Stimme leise, kaum wahrnehmbar flüstert … du bist im Meer der Ruhe. Spürst du sie, diese absolute Ruhe? … nichts kann dich dieser Ruhe entreißen … genieße diese Ruhe und öffne deine Gedanken  … öffne sie und befreie dich von allem Ballast … befreie dich von allem, was dich quält … lass es fließen und ergib dich dieser unendlichen Ruhe.         

Du weisst nichts mehr von dir, weisst nicht einmal mehr, dass es dich gibt, wer du bist. Alles ist angesichts dieses Erlebnisses  von absoluter Ruhe völlig bedeutungslos. Du möchtest für immer in diesem Zustand verweilen, aber es ist nicht dein Wille, dein Ich, das diesen Wunsch verspürt. Eine andere Ebene hat die Regentschaft übernommen, Suggestivkräfte beherrschen dich, du selbst bist nicht mehr existent. Du spürst die Gedanken aus deinem Körper fließen, du empfindest nur noch, was die Stimme dir eingibt.

Da, plötzlich, du vernimmst wieder Musik, eine andere Musik, als zu Beginn, jetzt aufrüttelnd und die Stimme, nicht mehr sanft und einschmeichelnd, sagt in festem, bestimmenden Ton … ich zähle jetzt bis drei, dann sind wir alle wieder wach, hellwach und wir strecken uns … eins, zwei …

Du bist wieder im Hier und Jetzt, noch benommen zwar, von dem eben Erlebten, aber wieder Herr deiner Sinne. Du bist wieder du. Was war geschehen? Noch begreifst du es nicht. Die Musik ist verstummt, der Raum wieder hell erleuchtet, die Vorhänge vor den Fenstern geöffnet. Die Gruppe der Menschen ist damit beschäftigt, mitgebrachte Yoga- oder Gymnastikmatten zusammen zu rollen. Es geht ihnen, wie dir. Die Surrealität der letzten Sekunden oder Minuten hält sie noch immer in Bann.

Etwas abgesondert von der Gruppe steht eine Frau. Sie hat nichts bei sich, wie es die anderen haben und schon deshalb hebt sie sich etwas von den Übrigen ab. Sie wartet noch etwas und sagt dann: „Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre disziplinierte Teilnahme an dieser Lektion. Sie haben heute selbst erlebt, welche Kraft in jedem von uns steckt. Jeder wird  vielleicht die Intensität anders empfunden haben, aber alle wissen wir nun, wie einfach es doch im Grunde genommen ist,  eigene  Möglichkeiten zu mobilisieren. Jetzt noch mit Anleitung durch mich, aber Sie werden schon sehr bald gelernt haben, es selbst zu tun. Sie werden einwenden, so einfach, wie ich es darstelle,  sei es nicht gewesen, schliesslich hätten wir schon viele gemeinsame Stunden damit zugebracht, uns in der Technik und Ausführung zu trainieren. Sie haben recht, aber sehen Sie, was ist das schon im Vergleich zu den unendlichen Möglichkeiten, die sich schon sehr bald für Sie auftun werden? Heute haben Sie das Meer der Ruhe kennen gelernt und erfahren, wie Sie es nutzen können, um unliebsame Gedanken über Board zu werfen oder einfach nur, um sich darin wohl zu fühlen und zu erholen.“

Auf dem Weg nach Hause verspürst du den unendlichen Wunsch, einem inneren Zwang gleich, der dich nicht mehr loslassen will, du willst den Weg gehen, bis du Im Tal der Sehnsucht angelangt bist. Es ist dir gleich, wie viele Stunden oder Tage es noch dauern mag, dorthin willst du, das ist sicher. Konfuzius soll einmal gesagt haben, der Weg sei das Ziel. Daran verschwendest du keinen einzigen Gedanken, der Spruch kommt dir nicht einmal in den Sinn. Du bist gefesselt in deinen Vorstellungen und Erwartungen. Du willst die Sehnsüchte dieser Welt erfahren, deine eigenen befriedigen können, dafür ist dir kein Weg zu weit, kein Training zu schwer. Was hatte die Kursleiterin zu Anfang der ersten Lektion gesagt? „Einige von euch werden vielleicht bis zum Schluss durchhalten und im Tal der Sehnsucht ankommen.“

Du würdest zweifellos dazu gehören. Dein gebeuteltes Leben soll wieder in Ordnung kommen. Deine vielen Liebschaften endlich in eine dauerhafte Beziehung einmünden. Ständig alles mitmachen und nirgendwo fehlen zu wollen, von allen gemocht zu werden, diesen Zwang wolltest du abschütteln. Das Tal der Sehnsucht soll deine Befreiung werden.

Einsam steht die junge Frau an der Haltestelle des Busbahnhofs. Die letzte Verbindung ist abgefahren, ohne sie.

Foto HK Reiter