Libyen ist groß. Ungefähr fünf Mal so groß, wie Deutschland. Na, dämmert’s? Mir ist nur gerade eingefallen, wie vor einiger Zeit manche Politiker meinten, Libyen könne man aus der Luft überwachen, mit Kampfjets. Da haben selbst Generale die Augen verdreht und gen Himmel gerichtet. Es gibt noch viele Statistiken, aber dies ist ja keine Geschichte über Mathematik oder Zahlen. Vielleicht einen Vergleich doch noch: sechseinhalb Millionen Einwohner, das Land mit der Wüste, 81 Millionen Deutschland. Das ist heute so.

Damals, als ich gerade in Tripolis angekommen war, war es anders. Deutschland bestand noch aus zwei Staaten, der BRD und der DDR. Und noch etwas früher, als ich in den 60er Jahren bei der Bundeswehr meinen Dienst versah, durfte kein Soldat, Beamter oder Zivilangestellter die DDR als solche bezeichnen. Das wurde sofort bestraft, wenigstens mit Wochenenddienst, Wache schieben oder etwas ähnlich Aufregendes. Was sie mit den Zivilisten oder Zivis, wie wir sie genannt hatten, gemacht haben, die derartig Subversives geäußert haben mochten, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich vermute aber, wenigstens für Jahre von jeglicher Beförderung ausgeschlossen, und etwas später dann nur, so in den 70ern, mit Bann belegt und als kommunistische Agitatoren verdammt und aus dem öffentlichen Dienst entfernt.

Das wachsame Auge des Staates hätte ja beinahe zu einem drastischen Lehrermangel geführt, wenn nicht einige der Lehrer (weibliche eingeschlossen), ihre wahre Gesinnung einfach verheimlicht hätten. Bald danach kam es dann zu der revolutionären Neuerung, bisher problemlos verstandene Geschlechterintegration, mittels Endung zu einem völlig neuen Durchbruch zu verhelfen. Auf einmal gab es nicht mehr nur Lehrer, sondern auch Lehrerinnen, nicht nur Auszubildende, sondern, den männlichen Azubi, Auszubildender genannt, und den weiblichen Azubi, weitläufig als Auszubildende bezeichnet. Der einfache Lehrling, egal, ob männlich oder weiblich, war ausgestorben. Übrigens der Kurzbegriff Azubi ist geschlechtsneutral geblieben, oder hat jemand jemals von Azubinnen gehört? Der Beruf Maurerin müsste eigentlich hinten mit zwei „r“ geschrieben werden, weil man sagt Maurerrin, hören Sie mal genau hin! Aber, wie gesagt, mit diesen oder ähnlich schwerwiegenden Problemen war ich damals noch nicht konfrontiert.

Mich hatten sie nach Tripolis geschickt, weil es dort einen potenziellen Auftraggeber für unsere Elektronik gab. Ich war kaufmännisch für ein bestimmtes Segment  des Geschäftsgebietes zuständig oder verantwortlich, das mich 1974 als Betriebswirt eingestellt hatte. Zusammen mit einem technisch versierten Vertriebskollegen sollten wir die ersten Vertragsgespräche führen. Das war die Idee; der Geschäftsleitung in München, muss dazu gesagt werden. Unser libyscher Counterpart hatte wohl keine Ahnung von den Vorstellungen unserer Bosse, jedenfalls war er zum vereinbarten Termin nicht anwesend oder, was viel wahrscheinlicher war, wie wir im Laufe der folgenden Monate lernten, er hatte einfach keine Lust oder null Bock, wie man heute sagt, uns zu sehen.

Es dauert eine gewisse Zeit, bis du das libysche System kapiert hast. Du gehst in dieses Ministerium, musst dich in eine Liste eintragen, deinen Pass abgeben, für die Deutschen reichte auch der Personalausweis, und warten, bis man dich ruft. Jetzt sitzt du da, aber keiner ruft dich. Irgendwann, nach stundenlangem Warten auf den Ruf, sagt man dir, das wird heute nichts mehr, du sollst doch morgen wieder kommen. Und das geht dann tagelang so. Vielleicht auch über Wochen, mit Anfängern bestimmt. 1978 waren wir Anfänger.

Später haben sich die Dinge zu unserem Vorteil verändert. Da wussten wir rechtzeitig, ob der Mensch, den wir besuchen wollten, anwesend war oder nicht. Wir hatten Freunde, die es uns sagten oder einfach mit hineinnahmen, am Warteraum vorbei schleusten. Das ging, weil wir gute Beziehungen aufbauten und dem einen oder anderen einen Gefallen erwiesen. Dinge aus Deutschland mitbrachten, die es in Tripolis nicht gab. Heiß begehrt waren Ersatzteile und technisches Gerät jeglicher Art. Auch mal einen Satz Reifen, anders ging’s eben nicht, das nur für den Fall, irgendein Schlaumeier wüsste es besser. Noch waren wir aber nicht soweit und warteten gut eineinhalb Wochen von früh morgens bis zum Abend, ohne Erfolg. Aber eben dann doch. Wir glaubten erst, der Mann müsse sich geirrt haben, als er uns plötzlich ohne Vorankündigung aufforderte, mitzukommen.

Dann gab’s die zweite Lektion. Wir betraten ein Büro, kein Vorzimmer, Sekretariat oder ähnliches, und standen unserem Gesprächspartner gegenüber. Er alleine, wir zu zweit. Ich kann nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, ob der Mann sich aus seinem Bürostuhl herausgeschält hatte, um uns zu begrüßen, meine aber, nein, er war sitzen geblieben, eine feste Einheit mit seinem Stuhl bildend. Hätten hier die Maßstäbe unserer Firma Geltung gehabt, müsste der Mann entweder dem außertariflichen Kreis angehört haben oder sonst in der Leiter schon weiter oben gewesen sein. Sein Stuhl hatte Armlehnen. Ein Privileg und untrügliches Zeichen in unserer Firma für den geschilderten Personenkreis.

Ich war gerade noch nicht AT, also Außertariflicher, besaß also einen einfachen Stuhl ohne Armlehnen. Mein Chef dagegen hatte einen, und als er bald darauf zum Abteilungsbevollmächtigten ernannt wurde, hat man sein Büro sofort mit Vorhängen ausgestattet und das gesamte Mobiliar ausgetauscht, einschließlich der Bilder an der Wand. So ist das, wenn auf der Kleidung keine Rangabzeichen getragen werden. Übrigens, sehr schnell bekam er auch ein Büro mit Vorzimmer, das stand ihm jetzt zu. Eigene Sekretärin! Vorher hatten wir uns alle zusammen eine Assistentin geteilt. Am Rande sei erwähnt, dass ich, fast zeitgleich, meinen Stuhl mit Armlehne bekam. Das Prinzip ist einfach, liefere gute Arbeit ab, die deinen Chef bei seiner Karriere unterstützt, dann wird er auch dir weiterhelfen. Meistens jedenfalls.

Da sass also der Mann, mit dem wir einen Vertrag machen sollten, so lautete jedenfalls unser Auftrag. Der Mann wusste ganz offensichtlich auch dieses nicht. Der Begriff verhandeln schien ihm fremd oder  sein Wortschatz barg ihn nicht, vielleicht noch nicht einmal seine Sprache. Die Besprechung oder das Meeting, wie man heute sagt, dauerte nicht sehr lange und der Mann bedeutete uns, zu lesen, was er uns in die Hand drückte, und in zwei oder drei Tagen wieder zu kommen. „Ja, wie, wann …“, versuchte ich eine Klarstellung herbei zu führen. Das ging vollends daneben. „Ihr Deutschen seit schon ein komisches Volk“, sagte er mit einem Lächeln, was ich gar nicht für möglich gehalten hätte. „Ihr zahlt viel Geld für einen Urlaub am Meer, nicht wahr? Jetzt habt ihr das Meer vor der Nase, die Sonne scheint jeden Tag, und da wollt ihr so schnell, wie nur irgendwie möglich, wieder weg. Das versteht kein Mensch. Macht euch ein paar schöne Tage, und kommt am Dienstag wieder, okay?“ Das war’s. Wir bedankten uns und versprachen, am Dienstag wieder hier zu sein. Nicht zwei oder drei Tage, es würde fünf Tage später sein.

Foto von David Stanley Travel unter einer Creative Commons Lizenz