Die junge Frau ist machtlos. Sie kann die Züge der Spirale erkennen. Jeden einzelnen. Nicht besonders scharf, eher nebelig wabernd, rotieren sie gleichmäßig nach rechts. Was sie erfassen, ist ihnen ausgeliefert, wird mitgerissen und unwiederbringlich ins Innere der Spirale geschleudert. Ihr Widerstand erlahmt, sie gibt nach, die Spirale greift nach ihr und droht, sie als Opfer zu verschlingen …

Mit einem mächtigen Getöse zerfetzt der Türgong die Stille. Einmal, zweimal, … ginggong, wobei das Gong von einem tiefen, nachschwingenden Ton getragen wird. Die junge Frau zuckt zusammen, schrickt hoch, kann nicht einordnen, wo sie sich befindet, was geschehen ist, öffnet die Augen mit einem starren Blick in die Ferne gerichtet. Langsam findet sie in die Wirklichkeit zurück, der Türgong, noch einmal sein dröhnendes Signal. Sie steht auf, schlurft benommen zur Türe, öffnet Gedanken verloren.

„Hallo“, sagt des Typ, ihr neuer Freund, „ich habe mir Sorgen gemacht“, sagt er schlicht. Er hat sich Sorgen gemacht, um dich, hämmert es in ihrem Kopf. Wann war das zum letzten Male der Fall gewesen? Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Niemand hat sich je Sorgen gemacht um sie, immer nur gefordert und genommen haben die Menschen, die ihren Weg kreuzten. Nur das war ihr haften geblieben. Die Eltern? Sie verschwendete keinen Gedanken darauf. Die Mutter, hatte sich Anfangs wohl noch um sie bemüht, hatten ihr später Bekannte erzählt, aber mit der Zeit sei sie ihr zum Ballast geworden. Die Mutter liebte das Leben und ein Kind fand da eben nicht seinen Platz. Dann war sie plötzlich verschwunden, hatte sie einfach zurückgelassen. Ihren Vater hatte sie nie gekannt. Das war schon alles zu ihrer Familie.

„Was, … was machst du denn hier?“, brachte sie mühsam über die Lippen. „Du bist nicht nach Hause gekommen. Ich dachte, ich sehe mal nach,“ erwiderte er verlegen. Er kannte sie doch eigentlich gar nicht, wusste nichts von ihr. Ihre Adresse hatte er von einem Brief, der einmal aus ihrer Tasche gerutscht war. Sie war ihm nicht gleichgültig, ein neues Gefühl für ihn, er mochte diese Frau ganz einfach, so war es eben. Nun, es hatte schon eine Weile gedauert, bis er das erfasst hatte, genau genommen bis letzte Nacht, als er ihren Schlüssel nicht sperren hörte.

„Okay, komm rein“, hörte sie sich sagen. „Sieht ein bisschen wüst aus, war einige Zeit nicht hier. Na ja, du weisst ja.“ Mit einer Handbewegung räumte sie das Sofa leer und sagte, er solle sich doch setzen. Sie suchte im Kühlschrank nach etwas Trinkbarem, vergeblich. „Ich mache uns einen Tee, wenn du magst?“ Er mochte, obwohl er sonst lieber Kaffee trank. Er musste etwas sagen, brachte aber nichts hervor. Die Kehle, wie zugeschnürt. Was war los mit ihm? Ist einfach, sagte sein Gehirn, du liebst sie!

„Ich weiss nicht, ich dachte …, ich wollte ein wenig allein sein“, stotterte sie daher. „Ich verstehe“, antwortete er, „willst du …, soll ich gehen?“ „Nein, nein!“, schrie sie beinahe. „Bleib ruhig hier, ist so einsam allein.“ Dann schwiegen sie beide, bis das Wasser für den Tee kochte. „Ich habe nur einen Früchtetee“, sagte sie zögerlich. „Früchtetee, ja … ist ausgezeichnet, trinke ich sehr gerne.“ „Du Lügner! Du magst ihn doch überhaupt nicht“, lachte sie etwas zutraulicher. „Ja, gut, … stimmt schon irgendwie, aber ich würde gerne mal eine Ausnahme machen.“ Unbeholfen, was er da so von sich gab, aber was sollte er tun?

„Weisst du“, sagte er dann unvermittelt „mit unserem Gehirn ist das so eine Sache, wir tun Dinge, von denen wir glauben, sie seien wohl durchdacht, in Wirklichkeit sind sie bestimmt von Reaktionen der Nerven, die dem Gehirn Informationen zuleiten, etwa in der Art von Vorahnungen. Wenn Dinge schon sehr oft in unserem Leben eingetreten sind, sind solche Informationen dadurch im Gehirn schneller verfügbar. Im Ergebnis bedeutet das, wir reagieren wesentlich schneller, als es auf dem Weg über unser Bewusstsein möglich gewesen wäre.“

Die junge Frau schaute ihn mit großen Augen an. „Was du so alles weisst!“ „Na ja“, wiegelte er ab. „Ich habe mich einmal dafür interessiert.“ „Was heisst das, du hast dich einmal dafür interessiert?“ „Ich bin einmal zur Universität gegangen, wie ein richtiger, braver Student.“ „Bevor du das durchgemacht hast, von dem du sprachst, ohne es näher zu benennen?“ „Ja, davor“, sagte er karg.

„Gehen wir etwas Essen, ich hätte Lust darauf. Ich lade dich ein.“ „Ich weiss nicht, wenn du meinst?“ „Gleich um die Ecke, ein kleines Bistro.“ Sie setzten sich in eine Ecke und bestellten ein paar Kleinigkeiten. „Ich möchte dir etwas erzählen“, sagte die junge Frau plötzlich. „Wenn du keine Lust darauf hast, sag es ruhig, ich höre dann sofort auf.“ „Nein, nein, ich …, erzähle nur!“ Sie berichtete von der Therapie und was sie soeben in ihrer Wohnung erlebte. Erzähle aus ihrem Leben und dem verfluchten Zwang nach Alkohol und wie sie das alles verabscheute und sich bemühte, da wieder heraus zu kommen.

„Ich werde dir helfen, wenn du das willst“, sagte er. „Ich möchte dich verstehen“, wobei er möchte betonte. Der jungen Frau war diese kleine Nuance nicht entgangen und sie fühlte, wie ihr diese winzige Bemerkung gut tat, ihr ein Gefühl von Geborgenheit einhauchte und bevor sie etwas sagen konnte, fuhr er schon fort: „Ich kenne Das Meer der Ruhe, ich kenne auch Die Spirale. Du wird sie eines Tages durchschreiten, sie hinter dir lassen und einen Schritte näher heran gekommen sein an Das Tal der Sehnsucht. Ich bin dort gewesen. Danach wirst du deine Probleme bewältigt haben, und Alkohol keine Gefahr mehr für dich sein. Du bist auf dem richtigen Weg, halte daran fest und verlasse ihn nicht!“

Die junge Frau war überrascht, mit welcher Bestimmtheit in der Stimme er gesprochen hatte, ganz so, als gäbe es nicht den geringsten Zweifel, alles würde genau so eintreten, wie von ihm vorhergesagt. Über sich hatte er nichts erzählt, auf ihre Fragen nur gesagt, eines Tages, wenn es soweit wäre, würde sie alles erfahren. Sie gingen zu ihm. In dieser Nacht verspürte sie seit langem wieder ein Gefühl nach Wärme, zaghafte Impulse von Sehnsucht keimten hoch, und sie schlief ein, ohne einen Gedanken an die tödliche Flasche in ihren Fantasien bekämpfen zu müssen.

Foto HKReiter