In der Küche klapperte Geschirr. „Frühstück“, sagte eine ihr unbekannte Stimme. Irritiert hüpfte die junge Frau aus dem Bett, um sich Gewissheit zu verschaffen. Tatsächlich, eine Frau, etwa in ihrem Alter, goss Kaffee in zwei Tassen. „Guten Morgen“, sagte sie. „Setz dich doch und leiste mir Gesellschaft:“ „Ich verstehe nicht …“, stammelte sie verwirrt. Wer war diese Frau und wo zum Teufel steckte ihr Freund?

„Ach so, wir kennen uns ja nicht. Mein Bruder hat mich gebeten, nach dir zu sehen. Er musste zu einem Termin, ein Auftrag, glaube ich.“  Nach ihr sehen, Auftrag? Ihr Gehirn signalisierte Unverständnis, und die Mimik ihres Gesicht schien dies deutlich auszudrücken, denn die Schwester des Freundes lachte und sagte: „Keine Sorge, mein Bruder meinte nur, du wärest momentan in einer etwas schwierigen Phase und da sei es besser, wenn ich hier wäre.“ „Sagte er das“, antwortete sie zurückhaltend.

Sie wusste nicht, was sie mit der Frau reden sollte, aber es tat ihr gut, jemanden um sich zu haben. Ein merkwürdiger Typ ihr Freund, dachte sieIrgendwie schien er immer zu wissen, was für sie gut war. Sie wusste nichts von ihm, vielleicht eine Gelegenheit, mit seiner Schwester ins Gespräch zu kommen. „Erzähl mir von deinem Bruder“, sagte sie schliesslich. „Ihr kennt euch noch nicht sehr lange, nicht war? Was soll ich sagen, mein Bruder ist, entschuldige bitte, wenn ich das so ausdrücke, ein wenig verrückt.“

„Verrückt?“, flocht die junge Frau ein. „Was meinst du damit?“ „Nicht verrückt im Sinne von, na ja, … von psychisch labil. Er macht verrückte Sachen, das meine ich. Geht zum Beispiel auf Leute zu, die irgendwie auffällig geworden sind, und redet mit ihnen, will verstehen, was sie dazu veranlasst hat.“ „Was heisst das, auffällig?“, fragte sie dazwischen. „Kürzlich hat er Jungendliche in einer Klinik aufgesucht, die dort wegen zuviel Alkoholkonsum behandelt werden mussten. Er spricht mit Leuten, die im Affekt schlimme Sachen angestellt haben oder geht zu ausgeflippten Künstlern, um sie nach ihren Beweggründen zu befragen. Vor ein paar Wochen wollte er herausfinden, was Leute antreibt, ihr Geld mit Stunts zu verdienen. Das Verrückte dabei ist, er spricht nicht nur mit diesen Menschen, er versucht auch, ihr Besonderheiten nachzuahmen. Er sagt, das sei notwendig, sonst könne er ihre Empfindungen nicht beurteilen.“

„Was ist dein Bruder?“, fragte die junge Frau. „Hat er dir das nicht gesagt?“ „Nein, hat er nicht. Wir haben bisher überhaupt nur sehr wenig gesprochen.“ „Dann wird er seine Gründe haben, es dir später einmal zu erzählen. Frag‘ ihn selber danach.“ Damit schien das Gespräch beendet. Die Schwester wirkte jetzt nicht mehr so offen, hatte sie den Eindruck.

„Er hat mir gesagt, du übst dich in Entspannungsmethoden, ähnlich dem autogenen Training?“, fragte die Schwester dann beiläufig.  Hatte sie sich nur etwas eingebildet?  Die Frage war völlig normal und freundlich gestellt, anstelle von Zurückhaltung eher Vertrautheit. „Ja, ich habe mit einer Therapie begonnen, zuviel Alkohol und andere Probleme, weisst du. Wir üben, uns total zu entspannen und unter Anleitung, eine andere Ebene unseres Bewusstseins zu erreichen. Wir erleben andere Zustände und manchmal würde ich daraus am Liebsten nicht mehr zurückkommen.“

„Frag‘ meinen Bruder, er wird die erklären, wie diese Dinge zusammenhängen. In Wirklichkeit bist du dabei, dein Bewusstsein zu verlassen. Dein Gehirn übernimmt die Regie, wie schon zuvor natürlich, aber jetzt tatsächlich noch intensiver. Was du in diesem Zustand erlebst, kommt ja gerade nicht aus deinem Bewusstsein. Du fühlst dich frei, dein Bewusstsein würde dich an die Erde ketten und das Gegenteil bewirken. Das Meiste in unserem Leben steuert unser Gehirn unter Umgehung des Bewusstseins, anders wäre unser Leben mehr als kompliziert. Wenn wir etwas Neues erlernen, sagen wir Tanzen, strengen wir anfangs unser Gehirn an, lernen die Schritte, machen uns Gedanken über Figuren und so weiter, aber langsam und unbemerkt denken wir beim Ablauf immer weniger an diese Dinge, sondern automatisieren sie. Schon bald beherrschen wir den erlernten Tanz in einer Weise, dass wir ihn ausführen können ohne nachzudenken und uns dabei mit unserem Partner über andere Dinge unterhalten.“

„Du meinst, die Therapie will genau dies bewirken? Das Negative, den Alkohol und alles, aus dem Bewusstsein vertreiben, damit es frei wird für Neues?“ „So könntest du es durchaus sehen. Dein Gehirn steuert dein Leben. Das bedeutet beispielsweise auf das Trinken bezogen, noch bevor dein Bewusstsein sagt greif zur Flasche hat dein Gehirn schon entschieden, zur Flasche zu greifen. Die Therapie will also tatsächlich bewirken, dein Gehirn frei zu machen von solchen Gedanken. Wenn es befreit ist, wirst du nicht mehr zur Flasche greifen wollen, verstehst du?“

„Was du sagts ist, wenn ich glaube, etwas bewusst zu tun, dann lag die Entscheidung hierfür bereits vorher in meinem Gehirn fest? Das, was wir Bewusstsein nennen ist nur eine Art vorgeschobener Wall, damit unser Gehirn in seiner Arbeit nicht beeinträchtigt wird?“ „Siehst du, ich bin auch keine Spezialistin in diesen Dingen, aber ist es nicht so, wir brauchen unser Bewusstsein primär als Reflexionsebene, um mit uns selbst sozusagen in einen Disput einzutreten, Abwägungen vorzunehmen et cetera.“

„Wer bin ich dann wirklich?“, fragte die junge Frau nach ein paar Sekunden des Nachdenkens. „Mein Bruder hat es mir einmal so erklärt, wenn wir den Ring geschlossen haben und die Zusammenhänge erkennen, erst dann erhalten wir eine vage Ahnung von dem, was oder wer wir tatsächlich sind. Zu viele Dinge bestimmen unser Leben, die auf anderen Ebenen stattfinden, als dem Bewusstsein. Deshalb ist es oft so unendlich schwer, Handlungen und Straftaten von Menschen zu verstehen, die sie selbst nicht verstehen, für die sie keine Erklärung finden.“

Unbemerkt von den beiden Frauen hatte sich die Zimmertüre einen Spalt breit geöffnet. Sie sahen die Hände des Mannes nicht, sahen nicht, was er hinter seinem Rücken verborgen hielt. Ein knappes Räuspern nur, und doch erschraken sie derart, dass jede Farbe aus ihren Gesichtern entwich. „Ich höre euch schon eine Weile zu“, sagte der Mann. „Es gibt nicht mehr viel, was ich ergänzen könnte.“

„Wer bist du?“, fragte die junge Frau spontan. „Ich werde es dir sagen. Ich denke, du bist bereit dafür und kannst die Wahrheit jetzt ertragen.“ „Willst du, dass ich bleibe?“, fragte seine Schwester. „Bleib ruhig“, sagte der Mann. „Es gibt Dinge, die auch du noch nicht kennst.“

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