Als der Bauer Simon Mooslechner am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertages in den Stall schlurfte, um seiner Arbeit nachzugehen, kam ihm unwillkürlich die Geschichte von der Sendlinger Mordweihnacht in den Sinn. Damals, als vor über 300 Jahren, am 25. Dezember 1705, bayerische Aufständische von Truppen des habsburgischen Kaisers Joseph I. in einem Massaker niedergemetzelt wurden, war ein Tropfen von Unversöhnlichkeit gegenüber fremder Obrigkeit in die bayerische Volksseele gekippt worden.

Simon Mooslechner hegte viel Sympathie für seine Landsleute von damals, und er fühlte auch ein wenig wie sie, denn heute war ein großer Tag. Etwas würde sich bewegen. Nicht so dramatisch wie seinerzeit, aber einschneidend sollte es schon auch werden.

Den Kühen im Stall war’s egal. Jetzt, über den Winter, mussten sie auf die Freiheit der Weide verzichten, aber die andere Jahreszeit würde auch wieder kommen. Nur, so weitreichend dachten Kühe nicht. Nachdem das Vieh versorgt war, verliess Simon Mosslechner den Stall und begab sich in den angrenzenden Werkzeugschuppen. Alles, was ein Bauer brauchte, fand sich hier ordentlich aufgereiht wieder. Verschiedene Sensen, dazu das Werkzeug zum Dengeln, Holz-, und Eisenrechen, Schaufeln verschiedenster Art, und vieles mehr.

Der Schrank in der Ecke war verschlossen. Mooslechner kramte einen Schlüsselbund aus einer Hosentasche und steckte zielsicher den richtigen Schlüssel ins Schloss. Zwei Drehungen nach links, und die schwere Holztüre liess sich öffnen. Stutzen und andere Gewehre standen entlang der Rückwand, mit den Kolben nach unten in hierfür angebrachten Halterungen. Oben am Lauf, unterhalb des Korns, wurden die Waffen von einer Schiene gehalten, die sich nach Entfernen des Sicherungsschlosses zurückschwingen liess.

Mooslechner nahm einen der Stutzen heraus, überprüfte die Gangbarkeit des Schlosses, nickte zufrieden, steckte noch zwei Schachteln Munition in eine seiner Taschen, verschloss den Schrank und verliess den Raum. Draussen war’s noch dunkel, und ein eisiger Wind kündete von einem weiteren kalten Wintertag.

Drüben vor’m Haus waren schemenhaft ein paar Gestalten auszumachen, die dem Mosslechner zuwinkten, als sie ihn kommen sahen. Wetterflecke aus derbem Loden verhüllten die Männer und ihre Gewehre, die sie unter den Lodenumhängen trugen. Wortlos stapften sie durch den spärlichen Schnee in Richtung des Dorfes, und schon bald waren sie von der Finsternis verschluckt.

Um die dreißig Bauern und Knechte fanden sich nach und nach beim Alten Wirt ein. Es war kurz nach halb sechs. Sie mussten sich sputen, denn schon bald würde das Angelusläuten aus dem Kirchturm dröhnen.

Die Männer trugen ihre Waffen jetzt offen über der Schulter, die Riemen vor der Brust gespannt, den Daumen eingehakt und die Rechte um den Riemen gelegt. Es konnte losgehen.

Mit schweren Schritten schoben sich die Männer hintereinander gehend voran. Ihr Ziel war unverkennbar ein Haus am Ortsende. Angekommen, verständigten sie sich durch Zeichen, und umstellten das Anwesen. Schemenhaft sah man das massive Gebäude Gestalt annehmen. Es mochte so um die einhundertundfünfzig Jahre alt sein, aber man konnte trotz der immer noch vorherrschenden Dunkelheit die Hand des geschickten Zimmermanns erkennen. Fenster, Fensterläden und Türen schienen neueren Datums zu sein. Auch das Dach machte nicht den Eindruck von Altertum.

Die Männer stellten sich auf, luden ihre Stutzen durch, pressten sie an die rechte Schulter und hoben den Lauf schräg nach oben an. Dann, wie auf ein Kommando, alle exakt zur gleichen Zeit, zogen sie den Abzug durch. Mit einem ohrenbetäubenden Rumms donnerte die Salve in die Luft. Die anschließende Stille wurde unterbrochen vom Geräusch des Nachladens. Im gleichen Takt, als hätten sie es eingeübt, hörte man das Anschlagen und Verriegeln der Schlösser. Rumms, knallte die nächste Salve in die Luft. Noch einmal wiederholte sich der Spektakel, dann war es mit einem Mal mucksmäuschenstill.

Im Haus indessen fing es an zu rumoren. Lichter gingen an und unten wurden Fensterläden zurückgeschlagen. Aus den Nachbarhäusern strömten Menschen herbei. Ja, und selbst weiter entfernt war der unverkennbare Lärm des Salven vernommen worden. Von überall kamen nun die Leute herbeigeeilt. Wie bei einer richtigen Demonstration, dachte der Mooslechner.

Die Schützen hatten sich mittlerweile vor dem Haupteingang des Hauses versammelt, sodass es für die Herbeigeeilten kein Durchkommen gab.

Ihr Wortführer, der Simon Mosslechner, hob mit fester und lauter Stimme an, zu rufen: Mach auf Gschwender und zahl deinen Preis. Du kummst uns nimmermehr aus! 

Stille, nichts schien sich zu rühren. Man hätte ein Blatt fallen hören. Dann, plötzlich, die Eingangstüre öffnete sich, und der Gschwendner trat ins Freie. Was wollt’s denn schon in aller Herrgotts Früh‘? Heut‘ am ersten Feiertag? Weihnachten ist’s. Habt’s des ebba scho‘ vergessen?  

Nix hamma vergess’n, du Hallodri, du ausgschamter. Hast g’meint, wir kemma net, weil’s Weihnacht ist? Solln mas no amoi rummsen lass’n?, antwortete der Mooslechner mit kompromissloser Stimme.

Na dann, kommt’s eina in mei Hütt’n, damit de Gurgel gschmiert werd!, sagte der Gschwender und gab den Eingang frei.

Die Stube füllte sich sehr rasch, und wer keinen Platz fand, stellte sich draussen auf. Der Mooslechner hob die Hand und die Anwesenden verstummten, bis es vollends ruhig war. Mia san kemma, um z’gratuliern. Im Namen von alle, die da wohna und da leb’n. Es is‘ uns zuatrong woa’n, dass dei Weib a Kind hat gebor’n, gestern, grad z’recht zur Weihnacht, wiea vor über zweitausend Jahr. Und da hamma uns denkt, da braucht’s was Bsonders, und so samma do!

Gerade rechtzeitig hatte das letzte Wort Mooslechners Lippen verlassen, als die schweren Glocken vom Kirchturm mit ihrem Geläut anfingen, als wollten sie das Ganze würdig beschließen.

Langsam ist’s dann hell geworden und der Gschwender musste immer wieder nachschenken und erzählen. Alle freuten sich, und, als sie dann schon etwas wackelig auf den Beinen waren, wankten sie hinüber zur Kirche, um den ersten Weihnachtsfeiertag mit Gottes Dank zu beginnen, und auch den neuen Erdenbürger haben sie in ihre Gebete eingeschlossen.

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