Das Geheimnis war gelüftet. „Ihr ward gespannt und habt deshalb etwas Besonderes vermutet, aber es sind nur ein paar Blumen“, erklärte der Freund der jungen Frau, als er seine Arme langsam nach vorne nahm.“Blumen?“, blickte sie irritiert. „Warum Blumen? Gibt es einen Anlass? Blumen verlangen doch immer nach einem Grund.“ „Ja es gibt einen, du bist der Anlass.“ „Ich, wieso?“ „Es ist sehr einfach, ich freue mich, dass du hier bist und wie sollte ich es besser ausdrücken können, als mit Blumen?

Der junge Frau waren Gefühlsäußerungen in dieser Form fremd. Ein Mann, der ihr Blumen schenkte, wozu? Sie wurde verlegen und fühlte sich unbehaglich, noch dazu vor seiner Schwester. Eine Erinnerung an die Kindheit tauchte auf. Es war in der Schule gewesen, sie war gelobt worden, vor der Klasse, für etwas ihrer Ansicht nach völlig Normales. Warum können Menschen einen nicht einfach in Ruhe lassen und akzeptieren wie man ist.

Irgendwie brachte sie dann doch ein es freue sie über die Lippen. Er nahm es ihr nicht ab, das war deutlich zu sehen, sagte aber nichts weiter. „Du willst wissen, wer ich bin?“, fragte er statt dessen. Sie sagte ja, aber war nicht mehr sicher, ob sie es wirklich wollte. Dann setzt euch, ich will es erzählen.

„Ich bin 38 und war mein ganzes Leben ein völlig normaler, nicht besonders auffälliger Mensch. Einen Teil davon kennt meine Schwester aus der gemeinsamen Zeit in der Familie. Bis zu dem Tag, als sich alles ändern sollte. Ich war, wie jeden Tag, auf dem Weg zur Uni. Als junger Mann bereits eine Professur, das kam nicht so oft vor, und ich investierte alles, was mich ausmachte, meine ganze Kraft, in diese Aufgabe. Wie es dazu kam, ist ohne Bedeutung für das Folgende. Ich war tatsächlich dabei, mir einen Namen in der Gehirnforschung zu machen. Es interessierte mich, und das tut es immer noch, warum Menschen zu bestimmten Verhaltensformen neigen, die andere in ganz ähnlichen Situationen nicht aufweisen …“

Die junge Frau bemerkte, wie ihr Atem unwillkürlich langsamer geworden war. War es die Art, wie er erzählte? Sie konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen, hing aber an seinen Lippen, das war ihr bewusst. Was ihr anfangs öde schien, entpuppte sich zu einer mit Spannung geladenen Episode.

„… Ich ging in mein Büro und vertiefte mich umgehend in ein Forschungsprojekt, Hypnose als selbstprojezierte Suggestion. Einfach ausgedrückt, ich wollte ergründen, ob Menschen bestimmte Verhaltensformen in einer Art Selbsthypnose praktizieren. Dies hätte erklärt, warum manche eben so handeln, wie sie es tun, und andere nicht. Dieser Form der Hypnose müsste, wenn sie tatsächlich existierte, eine extrem tiefe Selbstsuggestion vorausgehen, aus der sich der Betroffene nicht mehr befreien könnte. … Und sie müsste quasi ad hoc einsetzen, zum Beispiel auf ein bestimmtes Geräusch oder Signal hin. Wäre dies der Fall, so meine Hypothese, könnte ein solcher Mensch augenblicklich in einen Hypnose ähnlichen Zustand verfallen, der ihm suggerierte, eine Handlung ausführen zu müssen, die früher einmal dem Reich seiner Fantasie entsprungen war …“

Die Schwester sagte nichts. Gebannt, wie die junge Frau, folgte sie den Ausführungen des Bruders. Es waren die Details, die sie fesselten, die sie bisher so nicht gekannt hatte.

„… Weil nun schicksalhafter Weise die realen Umstände mit der Suggestion früherer Fantasien zusammenpassen, man könnte auch sagen, zusammenprallen, passiert das Unausweichliche. Ein Mensch wird in dieser Konstellation zum Mörder. Ist er nun für seine Tat verantwortlich? Ihr werdet mir entgegnen, das sei spekulativ, so etwas gäbe es in Wirklichkeit nicht. Ich aber erwidere, schaut euch jene Täter an, die unisono berichten, sie wüssten nicht, warum sie die Tat begangen hätten, es sei alles abgelaufen wie in Trance. Man befragt sie weiter und immer tiefer, kommt aber zu keinem Schluss. Die Tat haben sie objektiv begangen und sie werden dafür verurteilt …“

Der jungen Frau wurden ihre Erlebnisse bewusst. War das, was der Freund hier schilderte, ähnlich. Könnte sie sich soweit verlieren, dass sie nicht mehr gewusst hätte, was sie tut? Sie würde ihn fragen, später.

„… Ich komme jetzt auf den Punkt. In diesem Zustand des sich hineinversetzen in die menschliche Psyche verlasse ich mein Büro, um irgend etwas belangloses zu erledigen. Meine Gedanken sind immer noch gefangen von der erstellten Hypothese, da geschieht es. Ich komme zu mir, Menschen halten mich fest, andere stehen um mich gruppiert. Ich kann nicht sagen, was geschehen ist. Man sagt es mir. Ich bin entsetzt und verstehe mich und die Welt nicht mehr …“

Die beiden Frauen halten den Atem an. Es herrscht eine Stille, man hätte die buchstäbliche Stecknadel fallen hören. Fragen brennen in ihnen, aber sie sagen nichts, sind unfähig ein Wort hervor zu bringen.

„… Ich hätte versucht, einen Kollegen niederzuschlagen, der zufällig des Weges gekommen wäre und im Spass gefragt habe, ob ich wieder im Reich der Fantasien versunken sei. In Realita hatte ich mit einem Gegenstand, einer schmalen Vase, sagte man mir, auf ihn eingedroschen und ihn erheblich verletzt, so schwer verletzt, das er wenige Tage später im Krankenhaus verstarb. Ich war nicht mehr der geachtete Professor. In den Augen der Öffentlichkeit, in den Augen meiner Kollegen, war ich von einer Sekunde auf die andere zu einem mordenden Monster mutiert …“

Die junge Frau stieß einen spitzen Schrei aus und fühlte, es zöge ihr den Boden unter den Füssen weg. Sie war machtlos, meinte, in Ohnmacht zu fallen, aber das Bewusstsein hielt sie mit letzter Kraft aufrecht oder war es ihr Gehirn oder waren es andere Organe oder Funktionen ihres Körpers? Sie wusste es nicht und wollte es auch nicht wissen, nicht im Augenblick.

“ … Gutachter attestierten mir schizophrene Anlagen und so kam ich nicht ins Gefängnis, sondern musste mich einer mehrjährigen Behandlung in der Psychiatrie unterziehen. Ich weiss nicht, was besser gewesen wäre. Als ich entlassen wurde, fing ich an, zu trinken. Alles war zerstört, mein Leben, meine Zukunft. Niemand, der von mir hätte etwas wissen wollen. Meine Familie, meine Schwester halfen mir schliesslich wieder auf die Beine. Es brauchte viel Zeit und Geduld, von mir, aber noch mehr von jenen, die versuchten, mir Halt zu geben …“

Die Schwester konnte die Tränen nicht mehr stoppen und sagte: „Du musst nicht weiter reden, lass es gut sein.“

„… Ich war ein übler Bursche in dieser Zeit. Eines Tages aber traf ich zufällig einen ehemaligen Kollegen, der mich kaum wieder erkannte, wie er sagte. Tiefe Augenhöhlen, ein vom Alkohol gezeichnetes Gesicht. „Wissen Sie“, sagte er, „dass ich Ihre Hypothesen weiter verfolgt habe.“ Er drückte mir eine Karte in die Hand und bat mich, ihn die nächsten Tage zu besuchen, zuhause, privat. Das habe ich gemacht und er war es, der mich zu einer Therapie schleppte, die mir half, vom Alkohol loszukommen. Es hat allerdings einige Zeit gedauert und dann sagte er zu mir, er wolle mit mir zusammenarbeiten, mein früheres Gebiet mit mir zusammen vertiefen. Das ist es, was ich heute tue, mit grossem Interesse und Engagement und ich verdiene sogar Geld damit.“

Die junge Frau sah ihm ins Gesicht und sagte offen: „Ich danke dir, ja, du weisst gar nicht, wie sehr. Ich danke dir auch für die Blumen. Jetzt mag ich sie. Vorher mochte ich sie nicht, du hattest recht gehabt.