Mein Kollege war stinksauer. Weniger auf mich, als auf den Chef des Stützpunkts. Zu mir sagte er nur, ich sei verrückt, mich auf so etwas einzulassen. Meine Argumente dagegen ließ er nicht gelten. Das würde noch ein Nachspiel haben, sagte er. Samstag ist in Libyen, wie übrigens in allen arabischen Staaten, normaler Arbeitstag. Die Europäer, einschließlich uns, nahmen es da manchmal allerdings nicht so genau, wissend, dass in der fernen Heimat die Büros geschlossen sind und die Leute ihren Freizeitvergnügungen frönen. Niemand, der sie hätte erreichen wollen. Da lässt man es dann schon mal etwas langsamer angehen.

Wir hatten uns vorgenommen, in der Zentralbank nachzuforschen, wie es mit der Eröffnung unseres Akkreditivs aussah. Man muss wissen, solche Dinge laufen immer über die Zentralbank. Unser Partner im Ministerium hatte versichert, alles sei beantragt und wir sollten einfach noch etwas Geduld haben. Nach langem Gehadere und vielen Anläufen bis hin zum kaufmännischen Bereichsleiter hatte ich intern durchgesetzt, dass endlich, gerade noch innerhalb der vorgesehenen Frist, der Performance Bond ausgefertigt wurde. Und das war auch der Grund, warum unser Akkreditiv erst sehr spät auf die Reise geschickt werden konnte. Das eine bedingte das andere, so einfach war das.

Die Zentralbank ist natürlich bewacht. An jedem Eingang zwei Posten in Uniform und auf den Fluren uniformierte Aufpasser. Es gab aber keine Personenkontrollen und auch keine Anmeldeprozeduren. Wir konnten das Gebäude also gefahrlos betreten. Irgendwie gelang es uns, herauszufinden, bei wem die Zuständigkeit für die Eröffnung lag. Es war ein Büro gleich in der Nähe des Eingangsbereichs, kein Treppensteigen nach oben oder unten. Den Namen des Bürochefs habe ich vergessen, er spielt für unser Vorgehen auch keine Rolle. Wir schlendern den Flur rauf und wieder runter und studieren die Schilder links von den Türen. Ja ich glaube sie waren links, bei uns sind sie meistens rechts angebracht. Wir konnten natürlich nicht die Bohne lesen, alles arabisch. Schließlich konnten wir unser Büro identifizieren. Wir hatten es deshalb nicht sofort lokalisieren können, weil die Türe offen stand und den Blick auf die Tafel verwehrte, die wir allerdings, wie gesagt, sowieso nicht hätten lesen können, mit Ausnahme  der Nummer des Zimmers. Ja, ja, es ist gut, wenn du  Ziffern lesen kannst.

Das jetzt war ein Glücksfall. Mein Kollege bedeutete mir, Bescheid zu geben, sobald sich einer der Posten nähern würde, dann war er auch schon in diesem Büro. Ein riesiger Stapel von Dokumenten auf dem Schreibtisch, Akkreditivanträge, fein säuberlich in Englisch. Hastig sichtete mein Kollege den Stapel und konnte tatsächlich den uns betreffenden Antrag herausfischen und zu oberst legen. Keine Sekunde zu früh! Einem aufmerksamen Posten war unser Verhalten offensichtlich suspekt vorgekommen, worauf er eiligen Schrittes auf uns zukam. Im Bruchteil einer Sekunde erkannten wir, wie brenzlig es nun für uns werden könnte und beeilten uns, beinahe im Laufschritt, das Gebäude durch den gegenüberliegenden Ausgang zu verlassen. Dem Posten schien es jetzt klar zu sein, dass da etwas faul war, und er wechselte von Eilschritt in Laufschritt. Es gab nur eine einzige Frage, würden wir es rechtzeitig schaffen? Denn falls nicht, würden sie uns zweifellos erst einmal einbuchten. Und das konnte dauern, woran uns verständlicherweise nicht gelegen war.

Wir schafften es! Der Posten fing an irgendetwas zu rufen, es konnte nur uns betreffen, aber wir ignorierten es und eilten weiter auf den Ausgang zu. Ein paar Schritte noch, und wir standen im Freien. „Nichts wie weg“, raunte mein Kollege und wir schlugen trotz der Hitze einen zügigen Laufschritt an. Entfernt hörten wir den Posten schimpfen und brüllen, aber uns sollte er nicht mehr erwischen können. Das war geschafft, unser Akkreditivantrag im Stapel jetzt oben auf liegend, sollte gute Chancen haben. Die Leute arbeiten nach dem Prinzip, was oben liegt kommt zuerst dran. Manchmal gehen sie allerdings her und drehen den Stapel einfach um. Ich hoffte, in diesem Fall würde es nicht so sein.

Mehr konnten wir heute nicht erreichen. Gestern, am Freitagmorgen, warte ich vergebens auf den angekündigten Wagen, auch meinen Kollegen holt niemand ab. Was ist geschehen? Ein mulmiges Gefühl macht sich in mir breit, schneidet in meine Eingeweide. Ist die Sache am Ende aufgeflogen, noch bevor sie stattgefunden hat? Mein Kollege merkt natürlich, dass etwas faul ist, sagt aber nichts. So gegen elf Uhr taucht dann doch jemand auf und erklärt ohne Umschweife: „Die Fahrt braucht’s nicht mehr, wir haben ihn heute Nacht von Tobruk aus mit einem Flugzeug ausgeflogen. Ist alles glatt gegangen, aber schönen Dank für Ihre Hilfe.“ Mein Kollege muss ziemlich bedeppert dreingeschaut haben. „Ach ja“, sagte der Besucher zu ihm, „Sie wissen ja von gar nichts, war so vereinbart, aber das ist ja jetzt gegenstandslos.“ Er verstünde nur Bahnhof, meint mein Kollege daraufhin und schlurft in sein Zimmer. Als der Fremde wieder gegangen war, erkläre ich meinem Kollegen die Lage. „Ich konnte dir nichts sagen, sie haben mich darauf festgenagelt“, sage ich. Er aber meint, dies sei eine riesen Sauerei und unverantwortlich von unserem Office. Ich aber mache mir Gedanken, warum erst dieser ganze Brimborium mit Auto und so weiter, wenn sie schon wissen, sie machen es mit einem Flieger. Vielleicht wollten sie einfach eine Alternative haben, dachte ich. Mein Kollege aber glaubt, die hätten absichtlich eine falsche Spur gelegt, falls es irgendwo eine undichte Stelle gäbe. Und das erboste ihn besonders, weil sie mich auf jeden Fall in eine nicht kalkulierbare Gefahr gebracht hatten. „Stell dir bloss mal vor, da packt einer aus, und nennt deinen Namen? Dann haben sie dich am Arsch, und da kommst du  nicht mehr raus.“

Gegen Abend fuhren wir ins Camp, eine Ansammlung von Wohncontainern für einige Monteure eines anderen Bereiches unserer Firma. Sie bauten ein Fernmeldenetz oder ergänzten es, so etwas in der Richtung. Unser Projektleiter wohnte ebenfalls noch im Camp, hatte aber vor, demnächst ins Gästehaus umzuziehen. Es gab reichlich Selbstgebrautes. Das beinahe Abenteuer erwähnten wir mit keiner Silbe.

Einmal war ich eingeladen und es gab Dampfnudeln. Dampfnudeln in Libyen! Mit Vanillesauce, ganz wie zuhause, früher, als meine Mutter noch lebte. Aber in Tripolis, da erwartest du alles andere, bloss keine Dampfnudeln. Und es war natürlich einigermaßen schwierig, diese Riesendinger, luftig, wie sie waren, durch den trockenen Hals zu bekommen. Das war für mich schon als Kind immer schwer gewesen und brauchte einen gewaltigen Vorrat an Vanillesauce, als Schmiermittel sozusagen. Was tun? Mein Gehirn arbeitete fieberhaft. Eine Lösung musste her, bevor das Desaster seinen Verlauf nehmen würde. Die Rettung! Bier! Der Gastgeber war weithin bekannt für seinen Trunk. Dunkelgoldgelb, ja, das war die Farbe des unübertroffenen Gebräus. Er nicht, aber die Gastgeberin, seine Frau, zog eine Augenbraue leicht in die Höhe, als sie meinen Wunsch vernahm. Mit Kaffee hatte sie gerechnet, aber mit Bier, nein, zu Dampfnudeln? Das schien ihr bisher nicht untergekommen zu sein, aber ich bekam ein Glas, genau genommen eine original bayerische Halbe. Der Hausherr schmunzelte und zwinkerte mir verstohlen zu, er wusste Bescheid, keine Frage, und schenkte sich sofort selbst eines ein. Ich muss sagen, das waren mit Abstand die besten Dampfnudeln, seit Erfindung dieser Speise.

Foto von Neil Weightman unter einer Creative Commons Lizenz.