Was habe ich oder meine Situation mit Perseus zu tun, werden Sie fragen. Nichts im Sinne der Griechischen Sagen- und Götterwelt. Aber der Reihe nach. Nairobi habe ich wenige Tage nach der ominösen Visite in der Nobelvilla verlassen. Der Vertreter unserer Firma, vorsichtig befragt, konnte mir nicht weiter helfen, er kannte die beschriebene Villa nicht. Das fragliche Stockwerk konnte ich im Hotel tatsächlich nicht vorfinden, genau, wie es mein Gastgeber in der Villa vorhergesagt hatte. Die Bedienfelder aller Lifte waren durchgehend nummeriert, kein Stockwerk, das mit einem Spezialschlüssel hätte angesteuert werden können. Angekommen in München rief ich einen meiner Freunde an, Ingenieur und Inhaber einer kleinen Firma, die mit der Entwicklung modernen Aufzugsteuerungen ihr Geld verdiente. Von ihm erfuhr ich, es wäre nichts Besonderes, in Gebäuden wahlweise Stockwerke für den allgemeinen Verkehr zu blockieren. Berechtigte verfügten entweder über einen Minisender, der den gewünschten Halt herbeiführte oder über einen Schlüssel, der beispielsweise vom Zugang in der Tiefgarage aus funktionierte und natürlich in dem betreffenden Stockwerk. Zu diesem Zweck würde man ganz einfach die jeweilige Ruftafel austauschen. Die blockierte Etage würde normalerweise von niemanden unberechtigt gerufen, weil sie nicht vermietet ist. Drückte trotzdem jemand auf den Knopf, würde, je nach Komfort, eine Stimme erklären, man habe das falsche Stockwerk gewählt.

Was machte ich jetzt mit meiner Weisheit? Die Drohung, mich für verrückt zu erklären, sollte ich nicht friedlich sein, nahm ich nicht besonders ernst. Ich lebte schliesslich in Deutschland und nicht irgendwo auf der Welt. Zwei Tage später war ich auf dem Weg nach Buenos Aires und verdrängte die Schattenmänner und ihren Zuckerkomplex. Der örtliche Repräsentant unserer Firma war deutschstämmig, was seine gepflegte Sprache erklärte. „Ich dachte, ich tue Ihnen einmal etwas Gutes“, sagte er zur Begrüßung und erklärte mir freundlicher Gestik, er habe mich in einem der besten Hotels in der Stadt untergebracht. Am Abend wären wir zum Essen verabredet und ich solle doch die paar Stunden nutzen, um mich von dem langen Flug zu erholen und mich etwas frisch zu machen. Ich schmiss mich aufs Bett, drückte wahllos einen Knopf der TV-Fernbedienung und wenig später flimmerte ein englischsprachiger Kanal. Ich schloss die Augen und gab mich dem einschläfernde Gesäusel des Fernsehers hin.

Plötzlich, mit einem Mal, war ich hellwach. Ein Stichwort hatte in meine Gehirnwindungen eingeschlagen. Zucker! Unbewusst hatte ich eine Sendung über Landwirtschaft in Argentinien gewählt und ein Sprecher erklärte soeben, das die Erträge an Früchten und Zuckerrohr im Norden des Landes zugenommen hätten und von welcher Bedeutung der Rio Negro für die gesamte Region sei. Zuckerrohr! Da waren sie wieder, meine Barone und Schattenmänner. Verfolgten Sie mich? Ich beruhigte mich, es war ja nichts passiert, ein Fernsehbericht nur. An Schlaf war jetzt nicht zu denken, zum einen stand die Tageszeit nicht dafür und zum anderen wollte ich mich kundig machen über Verflechtungen von Zucker und Land.

Kurzerhand rief ich in der Deutschen Botschaft an und fragte, welche Veranstaltungen für heute und die nächsten zwei Tage in Buenos Aires angesetzt waren. Ich sagte mir, es könne kein Zufall sein, dass im Fernsehen ein Bericht über Zuckerrohr gesendet wurde. Die Deutsche Botschaft reagierte irgendwie herzig, würden vielleicht einige dazu sagen. Statt mir eine einfache Auskunft zu geben, fragten sie, warum ich das wissen wolle und ob ich nicht einfach einen Veranstaltungskalender zurate ziehen könne. Ich bedankte mich und hängte ein. Wenn du administrativen Betonköpfen begegnest, bist du machtlos. An der Rezeption im Hotel, war man um einiges freundlicher. Ein paar Minuten später hielt ich einen Veranstaltungsplan für den laufenden Monat in Händen. Es war einiges geboten in dieser Stadt, aber das, wonach ich suchte, war nicht darunter. Enttäuscht legte ich den Prospekt zur Seite, als das Telefon schnurrte. Es gäbe noch eine Veranstaltung, die erst nach Drucklegung gemeldet worden wäre, klärte mich ein Mitarbeiter des Hotels auf. Das ist Service, wie er sein muss, freute ich mich.

Am nächsten Abend trafen sich Vertreter der größten Nahrungsmittelproduzenten unseres Planeten zu einem Kolloquium über Weltbevölkerung und Ernährung. Da musste ich hin, aber wie sich Zugang verschaffen, ohne Einladung oder Eintrittskarte oder was immer dort verlangt wurde. Ich bemühte noch einmal die Rezeption. „Kein Problem“, hörte  ich, „lassen Sie uns nur machen.“  Ich hatte lediglich gesagt, ich wäre als Journalist interessiert, habe es aber versäumt mich zu akkreditieren. Es dauerte wieder nur ein paar Minuten, als es an der Türe klopfte. Ich war im Besitz einer Einladung. Mein Name prangte fein säuberlich gedruckt auf einer Karte, die mich als Vertreter des örtlichen Ausländervereins auswies. Was es alles gibt?

Der Tag zog sich mit einigen Besprechungen dahin und ich wartete ungeduldig auf den Abend. Unserem Vertreter sagte ich, dass ich mir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen wolle, verschwieg aber meine wahren Beweggründe. Er schüttelte den Kopf und meinte, es sei mein Abend und er würde mir einen Fahrer schicken, damit ich auch wirklich sicher hin und wieder zurück käme. Außerdem würde sich das besser machen, meinte er noch zum Abschied. Beginn 21:00  Uhr. Eine viertel Stunde vorher wurde ich von einem Bediensteten zu meinem Platz geführt. Interessant für mich war die Tatsache, dass dort tatsächlich mein Name auf der Tischkarte zu lesen war. Der Verlauf war einigermaßen langweilig. Redner, Diskussionsbeiträge, Fragen, Antworten, diplomatisches Gesülze ohne jeden Wert, für meine Begriffe jedenfalls. Bis fast schon am Ende der Veranstaltung ein Redner in einem kurzen Beitrag darauf hinwies, man habe noch ein Spezialthema, das man aber von der eigentlichen Veranstaltung entkoppeln wolle, weil es sicher nur einige interessiere. Man wolle noch etwas über Nahrung und Diäten sprechen. Alle anderen seien herzlich zum Buffet eingeladen.

Peng, der Raum leerte sich in Windeseile und alle drängten zum Buffet. Ich wartete noch eine Weile, sah aber auf Anhieb niemanden, der über Nahrung und Diäten sprechen wollte. Also winkte ich einem der Bediensteten und fragte danach. „Sir“, sagte er auf Englisch, „diese Runde findet nicht hier statt, wenn sie mir aber bitte folgen wollen.“ Ich wollte. Ein paar Türen weiter tat sich ein kleinerer Raum auf, in dem bereits einige Personen Platz genommen hatten. Ich gesellte mich dazu und wartete gespannt, was nun kommen würde. „Meine sehr verehrten Herren“, Damen waren in der Tat keine anwesend, „reden wir nicht lange um den heißen Brei herum. Unsere Umsätze nehmen leider nicht den Zuwachs, wie wir uns das versprochen und einige Marktforscher prognostiziert haben.“ Ich war verblüfft. Ein offenes Wort. Vermutlich nahm keiner der Anwesenden an, es könne sich ein Subjekt, wie ich es bin, hierher verirrt haben. Die nahmen offensichtlich an, sie wären unter sich.

Vorsichtig schaute ich mich um und glaubte, das eine oder andere Gesicht schon einmal gesehen zu haben. Kein Zweifel, hier sassen Leute, die mir bereits in Nairobi begegnet waren. Mir wurde warm, Schweiß bedeckte meine Stirne und meine Hände wurden feucht. Nicht noch einmal, das hatten wir doch schon. Und dann hörte ich, wie der Redner erläuterte, auf welch perfide Weise man den Umsatz steigern wolle. „Auf einen Nenner gebracht, wir propagieren Süsses, steigern die Abhängigkeit, machen sie dick und fett. Wir forcieren Kampagnen, die den Leuten einhämmern, wie entscheidend es für ihre Gesundheit wäre, Kohlenhydrate zu essen, viele, viele davon. Gleichzeitig werfen wir Slim Fast Produkte auf den Markt, die ihnen suggerieren, etwas für ihre Gesundheit zu tun, indem sie nur Halbfettprodukte und ähnliches verzehren. Daran werden wir eine Menge verdienen, aber die Spitze kommt erst noch. Sie werden übergewichtig, also brauchen sie Diätprodukte, viele, viele Diätprodukte. Die Folge ist, sie nehmen ab. Schade meine Sie, fürs Geschäft? Nein, im Gegenteil, keine Diät ohne JoJo-Effekt. Der tritt immer ein und dann fressen sie wieder und füllen unsere Taschen.“ Erschöpft hielt der Redner inne, währen die anderen begeistert in die Hände klatschten.

Ich klatschte nicht. Zwei Arme, wie Schraubzwingen, mit zwei Händen daran, wie Klammern, hielten mich fest. „Kommen Sie mit“, sagte eine Stimme hinter mir. Ich dachte, Sie wären klüger, aber wer nicht hören will …, Sie kennen das Sprichwort.“ Die Wärme, die ich soeben noch verspürt hatte, war wie weggeblasen. Ich fror. Kälteschauder jagten meinen Rücken rauf und runter. Es schien, als würde es dieses Mal keinen Ausweg geben. „Wissen Sie“, sagte die Stimme weiter, „Sie sind nicht Perseus, Sie werden nicht einen Schild haben, der Sie vor dem Unweigerlichen schützt. Hier gibt es keine Pallas Athene, die zu Hilfe eilt. Hier sind nur wir und Sie.“ Dann schoben Sie mich hinaus.

Foto von Juergen Reiter