Sie war immer noch bei diesem Mann, ihrem Freund, wie sie ihn nannte, es ihm aber nicht sagte. Die Blumen, das war schön gewesen, aber sie wollte doch nicht … Die junge Frau bemühte sich, ihre Gedanken zu ordnen. Es gelang ihr nicht besonders gut. Vorsätze begannen zu zerbröseln, ein Gefühl von Chaos machte sich breit. Fragmente schwirrten umher, formten sich, nahmen Gestalt an, entzweiten sich wieder, zerbrachen in winzige Teilchen, lösten sich auf.

Ihr Kopf glich einer Müllhalde, die Gedanken, nur irrlichternde Blitze einer irrealen Welt, in der sich nichts mehr fügte, aus der es keinen Weg mehr heraus zu geben schien. Von irgendwo her aus weiter Ferne ohne Bezug zu ihr oder einem der Mosaiksplitter der sich auflösenden Bilder, raste sie auf sie zu, immer schneller werdend, raste durch sie hindurch, entschwand, kam wieder, krallte sich fest, nahm Raum ein, füllte ihr Denken aus, liess keinen Rest mehr für anderes.

Das Bild wurde klarer. Deutlich sah sie die überdimensionierte Flasche, ihre Flasche, die Flasche aus ihrer Tasche, Yogasachen flogen zur Seite, jetzt nur noch die Flasche! Trink, sagte eine Stimme, trink, du brauchst es, es wird dich ganz leicht machen, alle Sorgen vergessen lassen, … trink, trink … So unbändig das Verlangen war, der Stimme nachzugeben, so immens bäumte sich plötzlich eine gewaltige andere Kraft auf, drängte die Flasche zurück, nahm ihr die Dimension, zwang sie dorthin, wo her sie gekommen war, bis schliesslich nur noch ein Punkt von ihr übrig blieb, der mit einem lauten Knall zerbarst.

Sie haben die Spirale durchschritten, sagte die Stimme der Therapeutin. Sie lassen alles zurück, was sie bedrängt. Sie spüren die Freiheit, nichts kann Sie mehr aufhalten. Gehen Sie weiter, immer weiter … alles zurücklassend, immer weiter … Sie brauchen es nicht mehr, werden es nie mehr brauchen, es ist nicht mehr da, es gehört Ihnen nicht mehr, es ist fort, weg, weit, weit weg … weiter weg, als dass Sie es zurückholen könnten …

Sie ging weiter, folgte der Stimme der Therapeutin, wusste aber nichts davon, Gehirn und Bewusstsein waren eins, ging immer weiter, erreichte eine in Farben gegossene Ebene,  unbeschreiblich diese Farben, Farben, die sie niemals je zuvor gesehen hatte, liess sich nieder, badete in diesem Meer aus Farben und verspürte, wie unaussprechliche Ruhe sie umfing, nach ihr griff und schliesslich Besitz von ihr ergriff.

… Sie gehen weiter, direkt auf den vor sich liegenden Pfad zu, … Sie sehen ihn, gehen weiter, folgen dem Pfad,  vergessen alles um sich herum, konzentrieren sich nur noch auf den Pfad, geben acht, wohin der Pfad Sie führt  …

Dann lag es vor ihr! Das Tal der Sehnsucht öffnete sich in einer überwältigenden, beinahe furchteinflößenden Weite, aber an diesem Ort gab es keine Furcht, hier gab es nichts, was den Geist, die Gefühle beengt hätte. Farben, noch üppiger als zuvor, eine Imagination unendlicher Pracht. Farben, die sich ineinander verwoben, verloren und auflösten, um im nächsten Augenblick in neuen, noch gigantischeren Kombinationen empor zu schießen. Niemand sagte etwas, die Stimme der Therapeutin war verstummt, und trotzdem wusste die junge Frau, wo sie sich befand, kannte den Ort, als wäre sie schon immer hier gewesen.

Sie spürte, wie Wünsche, Sehnsüchte und Vorstellungen von ihr abfielen, bis sie nur noch als reines Wesen vor diesem gewaltigen Anblick stand. In diesem Moment durchlebte sie eine Bedürfnislosigkeit ohne gleichen und begriff mit einem Mal die Bedeutung des Tales der Sehnsucht.

Später nach der Lektion, als die anderen Teilnehmer schon gegangen waren, sprach sie noch mit der Therapeutin. „Wissen Sie“, sagte diese, „jeder kann im Tal der Sehnsucht etwas anderes finden, aber jeder wird etwas finden, das er so vorher nicht gekannt hatte. Es hängt von der Ausgangssituation des Einzelnen ab. Wahre Sehnsucht ist bestimmt von den Dingen, Zuständen und Gefühlen, die wir zurücklassen möchten, weil sie unser normales Leben beeinträchtigen, ja, es vielleicht sogar ruinieren könnten. Sehnsucht ist deshalb niemals Ausdruck davon, etwas besitzen zu wollen, sondern das Gegenteil. Denken Sie darüber nach!“

Zuhause, eigenartig, sie empfand jetzt, bei ihrem Freund zu sein, als zuhause. Noch heute Morgen wäre sie völlig anderer Ansicht gewesen. Wenn du etwas zurück lässt, gewinnst du  etwas hinzu, sagte ihr Verstand. Es schien ihr plötzlich so einfach und klar zu sein. Sich von Ballast zu befreien, schaffte mehr Raum für das Wichtige, schaffte überhaupt erst den Raum, das Wichtige zu erkennen.

Er war schon da. Es tat ihr gut, sie fühlte eine Geborgenheit, die sie immer gewünscht, aber nicht bekommen hatte. Es war aber nicht, weil er die Last der Verantwortung zu tragen gehabt hätte, sondern weil sie und nur sie selbst jetzt Verantwortung übernehmen konnte und auch wollte.

Er sah sie an und sagte: „Du bist im Tal gewesen?“ „Ja“, sagte sie, „sieht man es?“ „Ich sehe es“, sagte er. „Du strahlst es aus. Ich freue mich für dich. Du wirst es jetzt leichter haben, weil du verstehst, wohin du willst, dein Ziel kennst.“

„Ja ich kenne es und es ist gut, dich als Freund an der Seite zu wissen. Es macht das Leben leichter. Vielleicht muss ich einmal wieder zum Tal der Sehnsucht und ich werde es wissen, wenn ich dich ansehe und mit dir spreche. Dazu brauche ich dich, wenn du magst?“

 Foto HKReiter