Als Mathias Hirschhuber die Treppe hinaufstieg, empfand er nichts Besonderes dabei. Mühselig war es halt, diese ausgetretenen, steilen Stufen überhaupt hochzukommen. Aber Mathias kannte es nicht anders. Seit er denken konnte, waren es immer schon diese Stufen gewesen. Derbe Bohlen eigentlich, die irgendwann einmal zusammen mit der Hütte auf das schmale Felsplatteau gesetzt worden waren.

Ein Großvater oder Urgroßvater soll sie gebaut haben, hatte ihm seine Mutter einmal erzählt. Mathias wusste es nicht mehr so genau, die Mutter war lange schon tot und auch der Vater lebte nicht mehr. Vielleicht war es der gewaltige, ja überwältigende Blick ins Tal, weshalb die Hütte dort errichtet worden war, wo sie jetzt stand. Als Kind hatte er sich immer einen Spass daraus gemacht, schneller oben zu sein als die anderen. Flink war er hochgewuselt, während sich seine nach Luft japsenden Eltern mit Rücksäcken und Taschen an den groben Handläufen nach oben hangelten.

Gelebt hatten sie in der Stadt, aber jede freie Minute waren sie hierher in die Berge geeilt. Und Mathias hatte es so beibehalten. Eine liebe Gewohnheit, wie er es nannte. Hier hatte er seine Ruhe und nur selten verirrte sich ein Wanderer in diese abseits jeder Route gelegene Ecke.

Bis alles heraufgebracht war, was er so für ein paar Tage brauchte, waren einige Gänge nötig. Mit dem Auto kam er nur bis zu einem weiter unten gelegenen Parkplatz. Den Rest musste er zu Fuss erledigen. Aber es machte Mathias nichts aus und er ging den Weg gerne ein paar Mal.

Einen Luxus gab es allerdings schon dort oben. Vor Jahren hatte es das zuständige Amt genehmigt und Mathias konnte über die Felswand vom tiefer gelegenen Hof eines Bauern ein Stromkabel hochziehen lassen. Jetzt brauchte er wenigsten nicht auch noch Petrolium für die Lampen hochschleppen. Geheizt wurde mit Holz, das es reichlich gab.

Mathias Frau kam selten mit. Sie habe es nicht so mit den Bergen, sagte sie immer, wolle aber ihrem Mann den Spass nicht vergellen. Kinder hatten sie keine. Über die Jahre sah man die Frau immer weniger und in letzter Zeit überhaupt nicht mehr. Sie mags halt net, die Steigerei und das Einfache hier oben, gab Mathias zur Antwort, wenn ihn jemand unten im Tal darauf ansprach.

Als er jetzt so die Steile Treppe unter seinen Füßen spürte, huschte ihm ein Aushang am Gemeindeamt durch den Kopf. Landvermesser seien unterwegs, war dort zu lesen gewesen. Irgendwo sollte ein Hotell oder eine Wellnessoase, wie man heute sagte, entstehen. Was geht’s mich an, dachte er und hob den Fuss zum nächsten Tritt.

Indessen tat sich unten im Tal Sonderbares. Einer schweren Limosine waren zwei dunkel gekleidete Männer entstiegen. Die Krempen ihrer Hüte warfen tiefe Schatten und verbargen ihre Gesichter, während sie auf den Sternen zuschritten. Die Wirtsstube war um diese Tageszeit leer. Die paar Mittagsgäste waren schon längst gegangen und für den Abend war es noch zu früh. Auf einen Kaffee mit Kuchen verirrte sich nur selten jemand.

Achtlos schmissen die Männer ihre Hüte auf eine Bank in der Ecke und ließen sich auf den gedrechselten Stühlen nieder. Zwei Halbe und a Brett’l Jausen für jeden, sagte einer in Richtung des Dresens, wo eine junge Frau gerade mit viel Geduld Gläser pollierte. Sie nickte nur und brachte wenig später das Gewünschte.

Also hör zu, sagte der eine, du gehst gleich nachher rauf und kümmerst dich um alles. Ich bleib hier und wenn’dst  fertig bist, schaun wir, dass wir weiterkommen. Ich bin solange drüben beim Bürgermeister. Der andere zuckte mit den Schultern, was soviel bedeuten konnte, wie, das ist mir doch egal, mach, was du willst, oder aber auch, ist doch kaum der Rede wert, ein Job, wie immer halt.

Dem Hirschhuber sein Refugium da oben, des werden’s net leicht kriegen können, meinte der Bürgermeister und ergäntzte, dass dies der Urgroßvater alles gebaut habe und der Mathias deshalb sehr daran hänge. Nehmens doch ein anderes Areal, s’gibt ja genug davon!, empfahl er deshalb. Der Mann im schwarzen Anzug sah den Bürgermeister lächelnd an und sagte, dass er prinzipiell schon recht habe, aber einer der Teilhaber des Projektes genau dieses Plateau haben wolle. Wegen der Aussicht, fügte er noch an.

Im Sternen fanden sich bereits die ersten Leute zum Abendessen ein, obwohl es erst gegen 18:00 Uhr war. Unter der Woche war das immer so, am Freitag und Samstag kamen sie meist später und blieben dafür länger. Die Frau am kleinen Tisch im hinteren Teil des Lokales wäre eigentlich niemandem besonders aufgefallen, höchstens vielleicht in der Art, wie man eben Fremde mit einem kurzen Blick streift. Bist du net die Hirschhuberin?, fragte aber plötzlich jemand laut genug, um auch von allen Anwesenden deutlich verstanden zu werden.

Leicht irritiert blickte Joseffa Hirschhuber auf die Frau am Tisch. Ja, stimmt, ich bin die Frau Hirschhuber und …, was wollen Sie von mir, wollte sie noch anfügen, als sie die Fragestellerin erkannte. Du bist des, s’Fannerl, s’Greitmeier Fannerl! Und schon waren die beiden in einen Ratsch vertieft, hatten sie doch beide früher, als Joseffa noch regelmäßig hierher gekommen war, oft das eine und andere zusammen unternommen.

Gehst nauf zum Mathias?, wollte die ehemalige Freundin wissen. Ich wuss’t gar net, dass er da ist, antwortete Joseffa. Und so erfuhr jeder, der die Ohren nur weit genug spitzte, dass Joseffa und Mathias immer mehr ihrer eigenen Wege gingen und sie nur desshalb hier sei, um nachher noch ein paar Dinge mit einer der hiesigen Familien zu regeln. Um was es sich dabei konkret handelte, sagte sie nicht.

Schnell hatte Mathias ein paar Scheite Holz in den Herd gesteckt, angezündet, und größere Scheite nachgelegt. Im Nu breitete sich eine behagliche Wärme aus. Zufrieden blickte er ins Tal. Schön war’s hier oben, einfach nur schön. Mit nichts hätte er tauschen mögen. Als er so vor sich hin sinnierte, vermeinte er mit einem Mal ein unbekanntes Geräusch zu vernehmen.

Da war es wieder! Ein Gratzen oder Zirpen, oder war es ein Schleifen? Nein, jemand sägte etwas, ganz eindeutig! Mathias öffnete kurz entschlossen die Türe, sah hinaus, konnte aber ad hoc nichts ausmachen. Gerade, als er die obersten Stufen der ausgemergelten Treppe betrat, um unten nach dem Rechten zu sehen, vernahm er einen kurzen, peitschenden Knall. Ein Schuss! Keine Frage, ein Schuss!, sagte er zu sich und bleib wie angewurzelt stehen.

Im selben Moment wieder ein Knall! Hell und unangenehm peitschend, Kleinkalieber, schoss es Mathias durch den Kopf. Jemand schiesst auf dich!, sagte ihm seine Logik unmissverständlich und er beeilte sich, den Rest der Treppe nach unten zu gelangen. Wieder ein Knall! Mathias hetzte noch mehr und musste aufpassen, nicht zu stolpern. Es waren noch gute fünf oder sechs Meter, dann wäre er unten angelangt und in Sicherheit gewesen.

Aber so weit kam es nicht. Mit einem Fuss stand Mathias auf der nächsten Stufe, als diese unvermittelt unter der Last seines Körpergewichtes zerbricht. Er strauchelt, kann sein Gleichgewicht nicht mehr halten, stürzt und schlägt schliesslich unten auf den harten Fels. Regungslos blieb Mathias mit starren, weit geöffneten Augen liegen. Der Schrecken der letzten Sekunde spiegelte sich in diesen Augen wie eingebrannt wieder.

Später am Abend gesellte sich der zweite Mann vom Nachmittag zu jenem, der beim Bürgermeister gesessen war. Alles erledigt?, fragte Letzterer. Alles bestens. Ich habe sogar noch die Geschosse aus den Stufen herausgekratzt und irgendwo in einen See geworfen. Das war vielleicht ein Bild, wie ich ihm vor die Füße schieße und er dann in Panik die Stufen runter ist und patsch … auf die angesägte steigt! Die Männer unterhalten sich noch eine Weile und sparen dabei auch nicht mit zotigen Späßen.

Es ist schon fast gegen Mitternacht, als sich beim Sternen plötzlich etwas tut. Ein Mann schleppt sich zum Eingang. Er hinkt, zieht ein Bein nach. Im ersten Stock klopft er schliesslich an eine der Türen. Was, du hier?, schrie die Frau beinahe hinaus. Ja, ich hier! Hat nicht geklappt dein schöner Plan, mein Engel, erwiderte der Mann. Woher weisst du…?, stammelte die Frau.

Ist ganz einfach, mein Engel, sagte der Mann mit einem schiefen Lächeln im Gesicht und schob die Frau beiseite. Ich habe nachgedacht. Das Bein nachziehend ging er zielstrebig auf die Schwarzgekleideten zu, die offensichtlich mit der Frau eine Zusammenkunft abhielten. s’Fannerl hat mir gesagt, dass du hier bist. Handy, verstehst du? Dann habe ich ein wenig telefoniert, Informationen gesammelt, mit der Bank, mit dem Bürgermeister und anderen Bekannten. Dann wusste ich es mit einem Mal, was dich hierher in die von dir so ungeliebte Gegend geführt hat. 

Du dachtest, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Erst mich beseitigen, dann die Hütte und das Land verkaufen an diese Herrn da, die so elegant wirken in ihren Anzügen und den feinen Schuhen. Aber sie sind skrupellose Killer und du wusstest es, denn du wolltest sie benutzen. Und beinahe wäre es dir gelungen, aber eben nur beinahe. 

Mit großen Augen starrte die Frau auf ihren totgeglaubten Gatten. Was hast du jetzt vor, wollte sie angstvoll wissen. Nicht sehr viel, sagte der so Angesprochene. Wir beide tauschen nur die Rollen!

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