Mit quietschendem Getöse kam der Zug zum Stehen. Wuimersdorf, … Wuimersdorf (Wilmersdorf)!, rief der Fahrdienstleiter am Bahnsteig. Er folgte damit einer alten Tradition, denn über die Lautsprecher hätte er die Station auch ausrufen können. Zweimal am Tag hielt der Zug in Wilmersdorf. Einmal am Vormittag und einmal am Abend. Der Vormittagszug fuhr weiter nach Dingharting, und der Abendzug kam von dort. Unter der Woche, bis zum Freitag, gab es um die Mittagszeit dann noch den Postbus. Fünfzehn Kilometer von Dingharting kommend, blieb er eine Stunde am Ort, um die Post aus- und ein zu laden. Manchmal, eher selten, fuhr jemand mit.

Besonders viele Fahrgäste saßen nicht im Zug. Erstaunlich dagegen war, dass tatsächlich ein Mann ausstieg und einen Koffer herunter wuchtete. Ohne Zweifel, ein Fremder, der beabsichtigte, hier am Ort zu bleiben. Denn, wozu sonst der Koffer? Eine Umsteigeverbindung irgendwo anders hin gab es von Wilmersdorf aus natürlich nicht.

Sach’n se mal juter Mann (… sagen Sie mal guter Mann …),  fragte der Fremde den Fahrdienstleiter, wo jibted’n hier en Hotel (wo gibt es denn hier ein Hotel)? Ein Hotel, hier bei uns?, antwortete der Fahrdienstleiter und schüttelte den Kopf, und erkennbar um ein verständliches Hochdeutsch bemüht, fügte er hinzu: So was gibt’s hier net. Wozu auch? Drüben bei der Post, i mein s’Gasthaus, de ham a paar Zimmer! 

Der Fremde schlurfte aus dem Bahnhof hinüber zum Gasthof Zur Post. Er vernahm, er sei der einzige Gast, und könne sich das Zimmer aussuchen. Er nahm das größere. Nicht einmal so schlecht, ja, eigentlich sogar ausgesprochen gemütlich, fand er. Dielenboden und Möbel aus Holz, das einen angenehmen, natürlichen Duft verströmte. Er verstaute seine Sachen im Schrank und der Kommode; dann ging er hinunter in die Gaststube.

Er bestellte ein Bier und fragte: Hamse och ne Chjarte? Dabei sprach er das Wort Karte so komisch aus, dass der Wirt nachfragte: Wos moanas? (Was meinen Sie?), was nun wiederum der Fremde nicht verstand. Das ging eine Weile so hin und her, aber schliesslich verstanden Sie einander, und schon bald dampfte ein Braten vor des Gastes Nase.

Am nächsten Morgen sah man den Mann Richtung Schule gehen. Ja, Wilmersdorf besass eine eigene Schule! Aber wie lange noch? Sie brachten nur noch drei schlecht bestückte Klassen zusammen. Die vierte hätte es mit zehn Schülern, dem Reglement nach, schon gar nicht mehr geben dürfen. Ab der Fünften mussten alle Kinder nach Dingharting.

Einer der Lehrer war zugleich so etwas, wie der Rektor. Juten Tach, sagte der Fremde, jestatt’n, dass ik ma vorstelle? Stülphausen, von Stülphausen, der Schulrat vom Ministerium. Auweh!, war alles, was der Rektor darauf sagte. Nun denn, lassen’se uns gleich in medias res gehen. Ist doch das Beste, wenn wa die Sache schnell hinta uns krijen (kriegen), nichwa? (nicht wahr?). Wie’s meinen, antwortete der Rektor.

Dem Herrn von Stülphausen muss irgendwie bewusst geworden sein, dass er mit seinem Dialekt hier in Wilmersdorf nur sehr schlecht verstanden wurde, denn im weiteren Verlauf sprach er nunmehr ganz normales Hochdeutsch. Sie wissen, verehrter Herr Kollege, sagte er und sah dabei den Rektor durchdringend an, die Klassenstärke, die Zahl der Schüler, einfach zu wenig Substanz. Wir können den Schulbetrieb nicht weiter aufrecht halten. Wir schließen mit Ende des Halbjahres, dann sollen die Kinder nach Dingharting. Dort hat es noch Platz genug. Der Rektor wiegte bedächtig seinen Kopf, gerade so, als gäbe es noch eine Alternative und sagte: Könnten wir es nicht anders lösen? Die Klassen eins bis vier halten wir hier ab in Wilmersdorf, und ab der fünften dann in Dingharting. Dingharting wäre entlastet, und bei uns tät’s wieder reichen. Was halten’s davon?  Der Schulrat tat so, als überlege er, aber sein Entschluss stand schon längst fest. Sehen Sie, das bringt nichts, und wir im Ministerium wollen das auch nicht. Es wird so gemacht, wie ich sagte. Wilmersdorf wird aufgelöst!

Sagen’s nicht, ich hätte mich nicht um eine Verständigung bemüht, antwortete der Rektor. Ich verstehe nicht, sagte der Schulrat und runzelte seine Stirn. Ist ganz einfach, erwiderte der Rektor leise, ich werd’s Ihnen erklären. Ich hab‘ mich noch gar nicht vorgestellt. Spärling ist mein Name … Der Schulrat fiel ihm ins Wort: Spärling, wie der Name unseres Ministers? Ja genau, des is mei Bruder, ergriff der Rektor wieder das Wort. Und wir ham die Sache schon mit einander besprochen. Er sagt, des sei ihm grad recht, wenn wir’s so machen, wie ich vorgeschlagen hab‘, dann braucht nämlich sei Tochter net nach Dingharting und kann hier in’d Schul‘ gehn. Mei Bruder, müssens wissen, der wohn nämlich a hier in Wilmersdorf, gleich da vorn, schaun’s, und er zeigte auf ein respektables Anwesen, nicht sehr weit von der Schule entfernt.

Der Schulrat schluckte und stammelte schliesslich: Das habe ich nicht gewusst und das ändert natürlich einiges! Ja, das tut es!, sagte Spärling grinsend. Mein Bruder meinte, einen so fähigen Mann wie Sie, den darf man nicht im Ministerium versauern lassen. Der gehört in die vorderste Linie. Da oben, im Bayerischen Wald, da brauchen’s Leut‘ wie Sie, denn da gibt’s noch wirklich viel zu tun! 

Der Schulrat erreichte gerade noch den Mittagsbus. Was aus ihm geworden ist, weiss man nicht, aber in Wilmersdorf jedenfalls hat man ihn nicht mehr gesehen.

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