Langsam drehte sich der Mann im dunklen Trenchcoat um. Für einen Augenblick sah man sein vernarbtes Gesicht im Schein der Straßenlaterne aufblitzen, dann ging der Mann zügig weiter, bis er schließlich dem Kegel der Lampe entkam und in der Finsternis verschwand.

Neugierig folgten die Blicke der beiden Frauen an der Ecke dem Mann. Sie schüttelten den Kopf und tuschelten miteinander. Grüss Gott die Damen, quetschte ein hinzukommender Passant zwischen den Zähnen und einer kurzen Stummelpfeife hervor, lüftete seinen Hut und hörte im Vorbeigehen eine der Frauen sagen: Haben’s den mit den Narben auch gesehen? Ja, unheimlich war der, sagte die andere.

Der Mann mit dem Hut eilte weiter, ohne dass die Frauen seinen Gruss erwidert hätten und dachte, über wen die beiden wohl getratscht hätten. Er lächelte, dann vergass er die Sache.

Der Unheimliche tastete indessen die Taschen seines Trenchcoats ab, gerade so, als wollte er sich vergewissern, nichts vergessen zu haben. Auch er lächelte, aber sein Gesicht spiegelte nur eine Fratze wider. Eng an die Häuserzeile gepresst hastete er zielstrebig die Strasse der noblen Wohngegend entlang.

Ich geh‘ noch eine Runde mit’m Hund, sagte der Mann zu seiner Frau, die es sich im Wohnzimmer vor dem Fernseher gemütlich gemacht hatte. Ja, geh‘ nur, antwortete sie, ich werde inzwischen nachsehen, was heute Abend läuft. Das im Kamin prasselnde Feuer verbreitete eine angenehme, wohltuende Wärme und vertrieb die abendliche klamme Kälte des scheidenden Februars.

Der Hund, eine Mischung aus Schäfer und einer unbekannten Rasse, folgte freudig seinem Herrn, da und dort die Nase tief auf dem Boden, wie das Hunde eben so machten. Unvermittelt schlug er an und zerrte auf die gegenüberliegende Straßenseite. Was hast denn?, sagte der Mann, der nichts Ungewöhnliches ausmachen konnte. Nur unwillig beruhigte sich der Hund. Immer wieder versuchte er, den Mann hinüber auf die andere Seite zu ziehen. Dann gab er endlich Ruhe und sie gingen weiter.

Die Pfeife, längst ausgegangen, sass unverrückbar eingeklemmt zwischen den Zähnen des Passanten von vorhin. Sie war so etwas wie ein Talismann, den er überall mit hinnahm. Ohne Pfeife kannte man ihn eigentlich gar nicht. Gut, wenn er mal in der Kantine beim Essen gesichtet wurde, dann ohne, aber sie lag bestimmt neben ihm auf dem Tisch oder befand sich sorgfältig eingewickelt in einem Tuch in seiner Pfeifentasche. Der Mann, ein Kriminalhauptkommisar, war, wie hätte es auch anders sein sollen, beruflich unterwegs. Als er an die beiden Damen dachte, huschte erneut ein Lächeln über sein Gesicht.

Die Frauen hatten ihn gesehen, soweit deutete er die aufgeschnappten Wortfetzen. Der Narbige, wie er ihn nannte, war ihm also zuvorgekommen, obwohl er doch, wie er glaubte, den kürzeren Weg genommen hatte. Na, mal sehen, ob ich dich nicht doch noch einhole, sagte er zu sich und beschleunigte seinen Schritt.

Der Mann mit dem Hund schlurfte derweilen gemütlich seine gewohnte Runde, bis er unvermittelt beinahe mit einer wie aus dem Nichts kommenden merkwürdigen Gestalt zusammengeprallt wäre. Dunkler Trenchcoat und ein Gesicht zum Fürchten. Er konnte es genau sehen. Mehr noch, er blickte direkt hinein in diese unwirkliche Fratze. Sogar der Hund wich mit einem Jaulen zurück. Einen oder zwei Meter mochte er vorbei sein, als die Gestalt plötzlich auf dem Absatz kehrt machte und ihm nachrief: Hausnummer vierzehn? Die müsste doch hier sein!.

Ungewollt blieb er stehen. Der Hund duckte sich, als wäre er bereit, jederzeit einen Angriff auf seinen Herrn abzuwehren. Auf der anderen Straßenseite. Die haben sich hier nicht an die Regel gehalten, drüben ungerade und hier gerade. Ab zehn ist es genau anders herum. Sagte es und machte sich eilends davon.

Der Kriminaler mit der Pfeife sah den Mann mit dem Hund, wie er sich anschickte um die Ecke zu biegen. Er schien irgendwie verwirrt oder von etwas getrieben. Jedenfalls sah er sich ein paar mal hektisch um, bevor er seinem Blick entschwand. Vielleicht noch hundertfünfzig Meter, dann war er am Ziel.

In Nummer 14 herrschte eine seltsam rege Betriebsamkeit. Männer in weißen Overalls huschten umher. Andere durchwühlten Schränke und Schubladen, die Hände in Gummihandschuhe gesteckt, die Schuhe in Überzieher gehüllt. Scheinwerfer erleuchteten noch den letzten Winkel. Mit wenigen Worten erläuterte man dem Kriminaler die Situation. Der Bewohner war vor Kurzem tot in seinem Haus aufgefunden worden. Und da dieser ein bekannter Politiker war, hatte man schnell die Elite der Polizei zum Ort des Geschehens beordert.

Der Hundespaziergänger wieder vor seiner Haustüre, den Schlüssel zum Aufsperren schon in der Hand, zögerte und machte abrupt kehrt. Er musste wissen, was bei Hausnummer 14 vor sich ging. Die Fratze mit den Narben schoss ihm durch den Kopf. Hatte nicht vorhin der Hund genau an dieser Stelle angeschlagen? Was war dort also los?

Ist der Professor schon hier?, fragte der Kriminaler einen der umhereilenden Overalls. Ohne ein Wort zu sagen, deutete der Mann mit dem Daumen nach hinten. Danke! In einem angrenzenden Zimmer fand er ihn. Hallo und Grüß Gott! Haben Sie es doch vor mir geschafft? Grinsend drehte sich der Angesprochene um.  Sie wissen es doch, wenn ich mich schon mal auf eine Wette einlasse, dann gewinne ich auch. Das Narbengesicht des Professors grinste nicht wirklich, es sah vielmehr noch unheilvoller aus als normal.

Der Professor war unschlagbar der beste Gerichtsmediziner, dem der Kriminaler in seiner langen Laufbahn begegnet war. Sie hatten eine Wette laufen, Tatorte im inneren Stadtbereich nur noch zu Fuß anzusteuern und der Schnellere sei der Gewinner, was sich für diesen in einer Einladung zum Essen auszahlte. Dreimal lief das jetzt schon und alle drei Wetten hatte der Kriminaler verloren. Ein wenig wurmte ihn das, aber die gemeinsamen Abende waren es wert. Wegen des Professors entstelltem Gesicht kamen leider nur wenige Lokale in Betracht. Ja, dieses Gesicht, die Folge eines Unfalls, Säure. Der Professor war diesbezüglich wortkarg und der Kriminaler drang nicht weiter in ihn.

Was meinen Sie?, fragte er und bugsierte den Professor ins Freie. Ich bin mir ziemlich sicher, kein Fremdverschulden, lieber Freund. Der Mann ist auf die Leiter gestiegen, um etwas aus einem der oberen Regalfächer zu holen. Irgend ein Umstand hat ihn dabei abgelenkt, vielleicht auch erschreckt, das vermute ich jedenfalls, denn warum sollte er sonst von der Leiter gefallen sein? Und runtergefallen ist er nun mal, das ist eindeutig.

Der Mann vor der Türe konnte einen Teil der Unterhaltung mithören. Verdutzt sah er auf seinen Hund. Sollte dieser vorhin etwas bemerkt haben oder war es gar sein Gekläffe, das den armen Mann zu Tode erschreckt hatte? Nein, das Letztere konnte er ausschließen, sonst hätte die Polizei nicht wenige Minuten später bereits am Tatort sein können. Was war es also gewesen, weswegen der Hund angeschlagen hatte? Dann ging ihm plötzlich ein Licht auf.

Das Narbengesicht, natürlich! Auf der Suche nach Hausnummer 14 war er einige Male hin und hergelaufen, bis er ihn schließlich danach gefragt hatte. Dabei musste der jetzt Tote dessen entstelltes Gesicht gesehen und sich zu Tode erschreckt haben und plumps … Ja, so könnte es gewesen sein.

Der Mann mit dem Hund fasste einen Entschluss und ging zögerlich hinüber zu den beiden Männern. Entschuldigen Sie bitte, sagte er etwas verhalten, ich habe zufällig ihr Gespräch mitgehört und hätte da eine Frage …

Der Kriminaler lachte lauthals und auch der Professor verzog sein Gesicht. Das wäre das erste Mal, dass ein Toter selbst die Polizei verständigt hat, sagte der Kriminaler, immer noch japsend. Verdutzt sah der Spaziergänger auf den Kommissar. Ja, sehen Sie, sagte dieser freundlich, wie soll Ihre Variante denn zeitlich abgelaufen sein, wenn mein Kollege erst hierher geeilt war, nachdem man den Fund des Toten bei der Polizei gemeldet hatte?

Da nickte der Spaziergänger, sagte etwas zu seinem Hund und ging wortlos nach Hause.

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