Als Sebastian am frühen Morgen sein Gewehr schulterte und von Hinterriss aus ins Karwendelgebiet aufbrach, hätte niemand geglaubt, dass dies ein verhängnisvoller Tag werden sollte. Hinterriss, das westlich des Rißbaches zur Marktgemeinde Vomp und östlich davon zur Gemeinde Eben am Achensee gehört, zählte ausweislich der Volkszählung von 2001 ganze 54 Einwohner. An diesem unheilvollen Tag im Juli mögen es wohl annähernd gleich viele gewesen sein, denn die Zu- und Abgänge in den Jahren danach waren überschaubar.

Sebastian, den jeder in Hinterriss kannte, wie sich überhaupt alle untereinander kennen, war dennoch kein Einheimischer. Er war erst Jahre später im Ort hängen geblieben, und eigentlich wusste niemand besonders viel über ihn, wo er herkam oder wer er war. Er half jedem aus, der seine Arbeit schätzte und nahm dafür, was eben am Ort bezahlt wurde. Sebastian besass einen Jagdschein, ausgestellt in Rosenheim in Bayern und einen Waffenschein von einer Gemeinde in Tirol. Gelegentlich kümmerte er sich deshalb auch um die Reviere der Jäger, die manchmal Leute aus der Stadt waren und froh gewesen sind, dass ihnen jemand zur Hand ging. Eines Tages schenkte ihm einer der Jäger eine Büchse.

Als Sebastian so bergan stieg und langsam fast ins Bayerische gelangt wäre, sah er vor sich, in einer Entfernung von vielleicht 50 Metern, etwas aufblitzen, und in der Stille des Morgens hört er ein leises Plop zu ihm vordringen. Ein Schuss – die Waffe mit Schalldämpfer, hämmerten Sebastians Gedanken. Kurz darauf vernahm er das unsägliche Geräusch eines stürzenden Radfahrers. Sebastian verharrte wie gelähmt, als er durch die Zweige der Tannen, hinter denen er sich gerade befand, tatsächlich noch sah, wie ein Fahrrad in die Seitenbepflanzung eines tiefer gelegenen Forstweges schleuderte. Vom Fahrer indessen war nichts zu sehen.

Instinktiv rieß Sebastian sein Gewehr von der Schulter und lud durch. Der Blitz und das Plop: Jemand hatte auf einen der frühen Mountain Biker geschossen und offensichtlich auch getroffen. Easy Rider in Tirol fährt es ihm durch den Kopf. Vorsichtig darauf bedacht, so wenig Geräusche, wie möglich, zu machen, pirschte er sich an die Stelle des Blitzes heran. Vielleicht noch zwanzig Meter. Da, wieder ein Blitz, gefolgt von jenem verräterischen Plop. 

Hastig schaute er durch das Geäst und sah zu seinem Entsetzen, wie ein weiterer Biker aus dem Sattel flog. Dich krieg ich, du Drecksau, sagt er zu sich und pirschte näher an den Schützen heran. Noch fünf Meter. Da, plötzlich teilte sich die Buschgruppe vor ihm, und er stand dem Schützen Auge in Auge gegenüber. Eine Frau! Nicht irgend eine Frau! Es war die Rosi. Er kannte sie aus Mittenwald. Rosi war dort Bedienung in einem Tanzschuppen. Rosi trug ein Gewehr, und sie legte sofort auf ihn an, noch bevor er eine Abwehr machen konnte.

Rosi, sagte Sebastian, wieso machst’n des? Mach ich was?, antwortete Rosi. No, auf die Biker do schiaß’n. Sog, spinnst du, sagte die Rosie wieder, ich hab‘ doch genau g’sehn, wo’s blizt hat. Du warst des. Schmeiß dei Gwehr weg und heb die Pfotn!“ Ungläubig sah Sebastian, wie Rosis Zeigefinger den Abzug leicht nach hinten, zu sich hin, bewegte.

Was sollte er machen? Blitzschnell sein Gewehr hochreißen und auf die Rosi schießen? Nein, das konnte er nicht, nicht auf eine Frau, nicht auf die Rosi. Vorsichtig legte er sein Gewehr auf den Boden und sichert es. Rosi, versuchte er einen neuen Anlauf, ich bin’s, der Sebastian. Du kennst mich doch, vom Treff in Mittenwald! Ich kenn koan Sebastian, sagte sie, und jetzt geh‘ auf’n Boden. Leg di hin. D‘ Arm und d‘ Hax’n gspreitzt, as G’sicht nach unt’n. 

Er befolgte, was sie sagte und hörte, wie sie versuchte, mit dem Handy zu telefonieren. Sie hatte aber keinen Empfang und fluchte: Scheiß Klump, wenn’st as brauchst geht’s net. Kurzer Hand zog sie ihm den Gürtel aus der Hose, packte seine Arme nach hinten und zog eine Schlinge um sein Handgelenke. Schmerzhaft kniete sie dabei auf seinem Rücken. Dann packte sie seine Beine, wickelte das andere Ende des Gürtels darum und zog mit einem Ruck das Ende durch die Schlaufe an seinen Handgelenken. Des hoit net, hörte er sie sagen, und weiter, bleib bloss lieng, sonst krachts. I kenn do koan Spass! Dann machte sie sich an seinem Rucksack zu schaffen, den er schon vorher abgelegt hatte, um besser pirschen zu können. Zufrieden holte sie ein Seil aus einer der Taschen und vollendete ihr Werk.

Jetzt lag er hier, wie eine abgepackte Leberwurst, unfähig, sich zu rühren. Sie sagte: Ich geh jetzt und ruaf de Polizei. Irgendwo wer’d i scho an Empfang hom. Ein letztes Mal versuchte er, ihr zu sagen, dass er nicht geschossen hätte. Aber es war zwecklos.

Sie waren nahe der Grenze. Welche Polizei würde sie verständigen? Ist doch klar, fiel es ihm ein, es könnten nur die Bayerischen kommen. Hinterriss war eine Enklave, die nur über eine Straße aus Bayern zu erreichen war. Wie er so liegt und sich nicht rühren kann, denkt er für eine Sekunde daran, was wäre, wenn sie ihn einfach hier zurück ließe. Nachts würde das Wild kommen, vielleicht sogar Wildsäue. Das würde er nicht überleben und keiner würde je die Wahrheit erfahren. Scheiße entfuhr es ihm, dann hörte er Geräusche.

Zweifellos, es näherte sich ein Mensch. Er wollte schon um Hilfe rufen, beschloss aber dann, damit zu warten. Wenig später sagte eine männliche Stimme: Ja Kruzi Fix, wos is denn des? Der Mann meinte offensichtlich ihn, denn gleich darauf merkte er, wie seine Fesseln gelöst wurden. Sebastian rieb sich die Handgelenke und spürte, wie langsam das Blut wieder anfing zu zirkulieren. Ein Gefühl, als würden tausende von Ameisen über Arme und Beine laufen.

Wer hat Sie denn so verpackt? fragte der Mann und Sebastian war nicht einmal erstaunt, als er in die Mündung eines Gewehres blickte. Er roch Pulver. Mit dem Gewehr musste vor nicht allzu langer Zeit geschossen worden sein. Was tun Sie hier? antwortete Sebastian mit einer Gegenfrage. Ich bin Jäger, sagte der Mann und fügte hinzu, dass das Revier, zu dem er unterwegs sei, einem Freund gehöre.

Wieder raschelte und knackte es, und es waren zweifellos die Schritte eines Menschen zu vernehmen. Taumelnd, ihr Gesicht mit Blut verschmiert, kam Rosi auf sie zugestolpert. Der Mann hob sein Gewehr, ließ es aber wieder sinken und beobachtete gespannt, beinahe amüsiert, was hier vor sich ginge. Rosi zeigte mit blutverschmierten Fingern auf den Mann und stammelte: Er war es, die Biker! Hat mich überrascht und niedergeschlagen, und wohl geglaubt, ich sei schon hinüber! 

Langsam war Sebastian auf sein Gewehr zugegrochen. Unbemerkt legte er den Sicherungshebel um, und mit einem Ruck riss er die Waffe hoch, zielte auf den Mann und schrie: Lassen Sie ihr Gewehr fallen! Augenblicklich, sonst drücke ich ab! Das letzte, was Sebastian in seinem Leben noch wahrnahm, war der Augenblick, als der Mann sein Gewehr ebenfalls blitzschnell nach oben riss und fast gleichzeitig den Abzug durchzog. Instinktiv tat Sebastian das gleiche.

Zwei donnernde Salven zerrissen die Stille des Karwendel, dann war Ruhe. Die Rosi wischte sich das falsche Blut aus dem Gesicht und sah auf die beiden Männer, die sich nicht mehr rührten. Dann rief sie hinunter auf den Forstweg: Hey Burschen, es is vorbei. Es kennts auffi kemma. 

Wieso hast du g’wusst, dass des klapp’n wird, fragte einer der Biker. Ganz einfach, antwortete die Rosi, der eine war mein Mann, des wisst’s ja, weil für den war schliesslich der ganze Zirkus, und der andere a Depp, der alles glaubt hat, was mia eam vor’gschpuit ham. 

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