Die unbeschreiblichen Greueltaten in der Nacht zum 25. Dezember 1705 haben sich unauslöschlich in die bayerische Volksseele eingebrannt. Bayerische Aufständische waren von den Truppen des habsburgischen Kaisers Joseph I. völlig aufgerieben worden. Aufständische, die sich nach Sendling, einem Ortsteil Münchens, durchgeschlagen hatten und sich dort den kaiserlichen Truppen ergaben, wurden ungeachtet dessen in einem Massaker auf das Brutalste niedergemetzelt. In die Geschichte fand dieses Blutbad als Sendlinger Bauernschlacht oder Sendlinger Mordweihnacht Einzug.

Schon bald würde dieser Tag in etwas mehr als einem Jahr zum 310. Mal wiederkehren. Noch war es aber nicht so weit, als sich jetzt, im Oktober, Eigenartiges in Kochel am See zutrug. Ein gewisser Georg Fuchs, der von sich behauptete, einer seiner Vorfahren sei der legendäre Matthias Ägidius Fuchs gewesen, also jener Mann, der zusammen mit Sebastian Plinganser eine massgebliche Rolle beim gescheiterten Bauernaufstand gespielt hatte, versammelte mehrere finster dreinblickende Gestalten zu einem denkwürdigen Treffen.

Wir müssen ein Exempel statuieren, sagte Georg Fuchs in verschwörerischem Tonfall zu den ihn umringenden Männern. Jawohl, ein Exempel, wiederholte er finster, wie zur Bestätigung. Beifällig nickten die Männer und keiner widersprach. Wie sollten sie auch, waren sich doch nur zu einem einzigen Zweck hierher geeilt. In ihrem derben Schuhwerk, den Umhängen aus grob gewirktem Tuch und den spitzen Hüten aus demselben Material, gaben sie das Bild einer verschworenen Gemeinschaft ab, was jedermann sofort bemerkt hätte, wenn er bloss in ihre Nähe hätte kommen können.  Aber allein dieses war nicht möglich. Sorgfältig waren die Männer darauf bedacht gewesen, ihren Weg zum geheimnisvollen Treff unbemerkt anzugehen.

Es war Mitternacht und der Mond warf sein silbriges Licht durch die aufziehenden Wolkenfetzen auf die abseits am See gelegene Scheune. Der Fuchs Georg war ihr Anführer, kein Zweifel. So einen musste man nicht wählen oder irgend wie sonst ernennen. Er war es einfach. Schon seit jeher schwor er sie immer wieder darauf ein, wie schmachvoll die Urahnen in Sendling ihr Leben ausgehaucht hätten und wie schmerzlich es doch für sie als Nachkommen sei, dass diesem Unrecht niemals Sühne zuteil geworden ist.

Wir müssen es selbst in die Hand nehmen, donnerte Georg Fuchs mit tiefer Stimme. Über die Jahre hatte er immer mehr Männer um sich gescharrt, die, wie er, davon überzeugt waren, genügend Beweise dafür zu besitzen, dass gerade sie zu den Nachkommen der Unglücklichen aus Sendling zählten. Bayern muss erbeben und die Regierung endlich unseren tapferen Ahnen Tribut zollen, sagte er und hieb mit der Faust auf den Tisch vor sich, dass man meinte, dieser würde sofort zerbersten, schon des berechtigten Zornes wegen.

Die Männer sagten nichts. Wie gebannt hingen sie an den Lippen ihres Anführers, darauf harrend, endlich zu erfahren, welche Pläne er geschmiedet hätte und schließlich, was er ihnen dabei zugedacht hatte. Sie waren wild entschlossen, die Schmach von Sendling nicht mehr länger zu erdulden. Von überall waren sie hergekommen. Aus Schliersee, Wolfratshausen, Tölz, Murnau, Kochel, ja sogar bis von Landshut und Straubing hatten sich einige auf den Weg gemacht.

Jetzt waren sie hier. Trübes Licht aus flakernden Petroleumlampen erhellte ihre zerfurchten Gesichter. Die Jüngsten vielleicht um die Mitte Dreissig, die meisten aber gut über fünfzig oder sechzig. Der Fuchs Georg musste so um die 75 sein, vielleicht aber sogar schon darüber. Jetzt sag‘ uns schon, was hast vor, Georg, sagte einer mit bebender Stimme, die erahnen ließ, in welch historischer Verantwortung sich der Redner sah.

Durchdringend bohrte sich Georg Fuchses Blick tief in die Augen des Fragenden. Wir müssen sie aufrütteln, die da oben. Die haben doch allesamt schon längst die traurige Tragödie vergessen. Seit Generationen dringt immer weniger der schändlichen Wahrheit durch. Und das müssen wir ändern. Das sind wir unseren tapferen Vorfahren schuldig. Wenn wir es nicht tun, dann tut es niemand und schon bald, in wenigen Jahren, wird niemand mehr etwas über die damaligen Vorkommnisse wissen. Und wieder hieb Georg Fuchs mit der Faust auf den Tisch, dass alle dachten, dieses Mal wird er unweigerlich zusammenkrachen. Aber der Tisch hielt.

Als die Männer eine gute Stunde später die Scheune verließen, war vom Mond nichts mehr zu sehen. Stockdunkel war es und ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt, der winzige Tröpfchen an Hüten und Mänteln bildete. Schweigend stapften sie eine Weile den See entlang, um sich dann schliesslich im stärker werdenden Regen zu verlieren. Am ersten Advent sollte es beginnen, hatte ihnen der Georg seinen Plan auseinander gesetzt. Danach jeden Sonntag an einem anderen Ort bis sie sich in der Nacht auf den 25. Dezember an der alten Sendlinger Kirche einfinden wollten. Bringt eure Büchsen und Stutzen mit, und wer noch an Böller hat, nehmt auch diesen mit. 

Gute vier Wochen hatten sie noch Zeit, um alles auf das Genaueste vorzubereiten. Wenn sie jetzt ihr Exempel statuierten, wie der Georg zu sagen pflegte, dann, so sein Kalkül, könnte es gute Aussichten geben, zur 310. Wiederkehr des Scharmützels von Sendling im nächsten Jahr, die heiß ersehnte Huldigung der Taten ihrer Vorfahren und damit auch Sühne für das Frevelhafte zu erfahren.

Unzweifelhaft hatten sie einen historisch gebotenen Auftrag zu erfüllen. Der Georg hatte schon recht: Wer, wenn nicht sie? Ihre Ururgroßväter und noch weiter zurück waren heldenhaft in den Tod gegangen, als Preis für ihren heroischen Einsatz gegen Willkür und Unterdrückung durch die kaiserliche Obrigkeit. Nebelschwaden brachen sich Bahn und nahmen für eine gewisse Zeit die Sinne der mit dem Auto Angereisten in Beschlag. Die mit der Bahn zurück fuhren, saßen gedankenverloren in ihren Abteilen oder blickten durch die von Nebelfeuchte beschlagenen Scheiben.

Georg Fuchs war stolz auf seine Männer. Auf sie kam es an, wenn das Geplante seinen unverrückbaren Gang nehmen würde. Er brauchte Schwarzpulver und einige Stangen Dynamit oder was sie sonst verwendeten, um Lawinen oder Felsen abzusprengen. Er wusste sehr genau, woher er das Zeug bekäme, ohne eine Spur zu hinterlassen. Verschmitzt lächelte Georg vor sich hin. Da werden’s Augen machen, die Herrn, brummte er vor sich hin und blickte dabei nach oben.

Fortsetzung folgt irgendwann im November (sobald der erste Schlag vorbereitet ist) 

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