Vor Jahren, zehn oder zwölf mochten es sein, hatten sie ihm das Kabel hochgezogen.  Strom gab es seitdem immer. Er brauchte ihn zum Überleben. Nicht wegen der kalten Zeit im Winter, nein, heizen und Warmwasser lieferten ihm eine für diese abgeschiedene Gegend doch recht moderne, zentrale Heizanlage. Er hatte sie nur ein paar Jahre später installieren lassen und musste lediglich einen ausreichenden Vorrat an Brennholz anlegen, was kein Problem war, denn Wald gab es genügend um ihn herum. Den Strom brauchte er für seine Maschinen, die Melken, Buttern und Käsen während der Saison erleichterten, wenn das Vieh heroben auf der Alm war.

Früher, als er noch um vieles jünger gewesen war, ging er mit dem Vieh zum Ablauf des Sommers mit hinunter ins Tal und kam erst im späten Frühjahr wieder herauf. Jetzt aber zählte er schon über siebzig und mit dem Strom blieb auch er das ganze Jahr auf der Alm. Bisher war es gut gegangen. Es war schon ein ziemliches Stück zu laufen, bis man zu ihm heraufkam. Vom Dorf aus doch mehr als zwei Stunden und, wenn es viel Schnee gab oder sonst das Wetter nicht mitspielte, war es beinahe unmöglich, den Weg auf die Alm zu bewältigen. Freilich, mit seinem alten Unimog ging’s dann meistens doch noch. Sogar bei heftigstem Regen und Sturm hatte er damit die Strecke schon zurückgelegt – runter ins Dorf und wieder hoch. Die heutigen Allradfahrzeuge waren mehr für die Straße gebaut, zum Angeben und so, wie er meinte, aber nicht für echtes Fahren über Felsen und Schlamm.

Unten hatte es das ganze Jahr über viel geregnet, mehr als sonst und auch jetzt war dort kaum Schnee in Sicht. Ganz anders hier bei ihm auf der Alm. Das erste Weiß fiel Anfang November und immer, wenn es unten schüttete, bekam er hier oben eine neue Ladung Schnee dazu. An Fahren oder Laufen war längst nicht mehr zu denken. Meterhoch türmte sich der Schnee um Hütte und Stall. Selbstverständlich hatte er sich beizeiten eine Motorschneefräse angeschafft, sonst wäre es nicht zu schaffen gewesen. Im Laufe der Jahre hatte er ein sehr gutes Gespür für die Vorratshaltung entwickelt. Lieber etwas mehr von den wichtigen Dingen war seine Devise und so mangelte es an nichts. Sogar Bier und Wein war ausreichend gelagert.

Seit langem haben sie ihm eine feste Telefonleitung versprochen, aber bisher ist es damit nichts geworden. Zu teuer, sagten sie. Er solle das Handy nehmen, was er auch tat. Nur, wenn das Wetter es nicht wollte, dann gab es auch keinen Empfang. Eingeschneite Funkstationen waren noch das geringste Übel, aber Minusgrade und dicke Eisschichten waren für die Technik eine oft nicht zu überwindende Herausforderung. So hatte er auch jetzt wieder mal keine Verbindung nach unten in die Zivilisation, wie er gerne scherzte.

Gerade als er einen heißen Tee in die klobige Keramiktasse goss und ein wenig Honig hinzugeben wollte irritierte ihn ein Geräusch. Den Honiglöffel in der Rechten, den Kopf leicht zur Seite geneigt, erstarrte er in seiner Bewegung und versuchte mit höchster Konzentration dem vermeintlichen Geräusch nachzuspüren. Was war es gewesen und von woher war es gekommen? Wegen des Schnees hatte er die Läden vor die Fenster geschlagen, die Sicht nach draussen war ihm deshalb verwehrt. Da, wieder! Jemand rief etwas! Ja, er vernahm es jetzt ganz deutlich, eine helle Stimme!

Den Löffel zurück in den Honigtopf, den derben Holzstuhl hastig zurückgeschoben, dass er beinahe umgefallen wäre, hoch, nach vorne durch die Stube, Türe auf, zum Eingang, automatisch in die schweren Stiefel mit Schaft, der fast bis zu den Knien reichte, Umhang vom Haken, Hut auf den Kopf und Kapuze über den Hut gezogen, Kragen hochgeschlagen und schließlich der Griff zum Schal und die dicken Fäustlinge über die Hände gezogen.

Draussen war es trotz des Schneegestöbers noch einigermaßen hell und so konnte er etwa gute zehn Meter weit sehen, dann verlor sich alles in einer weißen Wand aus schneegeschwängerten Windböen. Mist, entfuhr es ihm, lauschte angespannt, konnte aber nichts Aussergewöhnliches wahrnehmen. Sollte er sich geirrt haben?

Den Schritt schon wieder zurück auf die Hütte zu lenkend war da jedoch plötzlich wieder diese grelle Stimme. Mit letzter Kraft, wie es ihm schien, schrie da jemand seine ganze Verzweiflung in den Wind, der jetzt schon zum Sturm angewachsen war und nur noch Wortfetzen an seine Ohren dringen ließ. Dann Stille, nur das tosende Gebrause des Sturms. Eisiger Schnee klatschte in sein Gesicht, aber er spürte es nicht. Jemand war in Not, in Gefahr, kein Zweifel, aber wie sollte er ihn oder sie finden können? Es muss eine Frau sein, die Stimme, hoch, beinahe schrill, hämmerte sein Gehirn. Rechts, du mußt nach rechts, sagte sein Verstand, beeile dich, du hast keine Zeit! 

Mühsam bahnte er sich sich einen Weg durch den schnell anwachsenden Untergrund aus Schnee. Etwa fünfzig Meter weiter gab es einen Bauchlauf, darüber einen Steg, vielleicht waren die Schreie von dort gekommen? Zielsicher stapfte er durch den immer tiefer werdenden Schnee. Er kannte doch jeden Zentimeter hier, bei jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit. Bis zu den Knien sank er ein. Kräftezehrend, für einen Mann in seinem Alter eine schier unmenschliche Anstrengung, aber er war doch einer von hier oben, eins mit der Natur, allen Widerständen trotzend, er musste es schaffen!

Noch ein paar Schritte! Zielsicher, trotz Sturm und Schnee, zielsicher auf den Punkt genau sah er jetzt den Steg vor sich, aber keine Spur eines Menschen, nirgendwo, soweit er das undurchsichtige Schneefiasko überhaupt mit Blicken durchdringen konnte.

Du hast dich nicht getäuscht, such weiter! Du mußt, bist die einzige Rettung!, dann war er auf dem Steg, der kaum noch richtig auszumachen gewesen war. Alles war eins geworden, nur noch Schnee ohne Konturen. Wie verrückt drehte er den Kopf nach links, dann wieder nach rechts, ließ seine Augen kreisen, sog die Luft ein, als würde er etwas riechen oder schmecken können. Nichts!

Da! Dort, neben dem Steg, ein Stück Anorak! Zwei Schritte nur, dann…! Bis zum Bauch eingesunken wurde es immer schwerer, den eigenen Körper nach vorne zu bewegen. Er würde es nicht schaffen! Verdammt! Reiß dich zusammen! Du und nur du mußt es schaffen, wer denn sonst?

Das Stück Anorak bewegte sich. Stop, wollte er rufen, aber nur ein Krächzen kam über seine vom Wind und Schnee spröden Lippen. Jetzt…, wo war der Anorak geblieben? Er konnte ihn nicht mehr sehen. Nichts war mehr da! Du bist zu spät! Keine Chance mehr, du bist zu spät!

Verdammt!, schrie er hinaus und mit schier unmenschlicher Kraft zog er seinen Körper aus den immer tiefer werdenden Schneemassen. Keuchend vor Anstrengung spürte er plötzlich etwas Weiches unter seinen Füssen. Mit Händen und Armen versuchte er, die Schneeberge beiseite zu schieben, aber er wurde langsamer und langsamer; seine Kräfte waren aufgebraucht.

Eine allerletzte Anstrengung! Mit beiden Händen packte er das stück Stoff, wie er meinte, glitt ab, riss sich die Fäustlinge von den Händen und packte wieder zu. Er ließ nicht mehr los, zerrte und zog, stemmte sich mit aller Kraft dagegen und langsam, Zentimeter um Zentimeter kam erst ein Arm, dann ein halber und schließlich ein ganzer Mensch zum Vorschein.

Erschöpft hielt er inne, pumpte Luft in seine Lungen, tätschelte und schlug das Gesicht des Wesens mit der flachen Hand, immer wieder, immer wieder. Dann, ein Stöhnen. Geschafft! Kommen Sie hoch!, schrie er, kommen Sie hoch! und zog und zerrte weiter.

Später, als sie es beide zurück zur Hütte geschafft hatten, am warmen Ofen saßen und heißen Tee schlürften, war beider Freude groß. Überschwänglich dankte ihm die Frau immer wieder, dass er sie so selbstlos gerettet habe. Bescheiden winkte er ab und meinte nur, dass das doch wohl selbstverständlich gewesen wäre.

Die Frau, ein junge Urlauberin hatte im einsetzenden Schneetreiben ihre Gruppe verloren, war vom Weg abgekommen und irrend durch das unwegsame Gelände gestapft, hatte dann Gott sei Dank die Hütte ausgemacht und geschrien, so laut sie nur konnte. Erschöpft war sie zusammengebrochen, hatte sich ihrem Schicksal ergeben und nichts mehr wahrgenommen.

Ist ja noch einmal gut gegangen, sagte er verlegen und mit brüchiger Stimme. Jetzt machen wir’s uns aber gemütlich und morgen schauen wir, ob’s der Unimog hinunter schafft ins Tal. 

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