Mesopotamien! Geheimnisvolles drängt sich uns auf, wenn wir an diese Kulturlandschaft Vorderasiens denken. Alexander  der Große kommt uns in den Sinn, bizarre Bilder aus dem Alten Orient geistern durch das Gedächtnis und wir erinnern uns, dass dort eine der Wiegen unserer Menschheit liegt, die viele tausend Jahre vor unsere Zeitrechnung zurückreicht.

Anfang der 80er Jahre, ich war damals Mitte Dreißig, bin ich an einer Hotelbar mit einem etwa gleichartigen Mann ins Gespräch gekommen. Wenn du viel unterwegs bist, merkst du im Laufe der Zeit, wie einfallslos eigentlich solche Bars sind. Immer der gleiche lange Tresen, manche in U-Form, andere bilden ein L oder sind fantasielos geschwungen. Du bestellst ein Bier, klotzt auf einen der zahlreichen Bildschirme, die gegenüber an einem Schwenkarm hängen, und siehst unentwegt Golf, Segelregatten oder andere Sportarten. Manche zeigen unablässig blödsinnige Musikvideos oder Modeshows. Das Absurde ist zusätzlich noch dadurch auf die Spitze getrieben, weil du keinen Ton hörst. Stumm geschaltet. Musikvideos ohne Ton, das ist kaum noch zu überbieten.

Der Mann erzählt mir von seiner ersten Reise nach Bagdad. Am Abend waren sie gelandet. Die Landebahnbefeuerung erlosch sofort, kaum, dass die Maschine aufgesetzt hatte. Der Irak befand sich damals im Krieg mit dem Iran. Zwei Nachbarn schlagen sich die Schädel ein. Niemand hätte geglaubt, dass so etwas im 20sten Jahrhundert noch einmal möglich wäre. Aber es war möglich, erklärte mein Barbekannter. „Da unten brodelt es ständig“, sagte er. „1980 hat Saddam Hussein die iranische Erdölprovinz Khuzestan  überfallen, um sich die Vorherrschaft im Mittleren Osten zu sichern. Aber daraus ist nichts geworden. Saddams Plan ging nicht auf. Seit dem liegen die beiden Staaten im Krieg. Welche Rolle der Westen dabei spielt, ist nicht durchschaubar. Ich erkläre Ihnen, was ich damit meine.“

Verstohlen blickte ich auf die Uhr und hoffte, es würde nicht zu lange dauern. Was er mir aber dann erzählte, ließ die Zeit wie im Flug vergehen: „Als ich die Passkontrolle erreichte, erlebte ich meine erste Überraschung. Ordentlich reihte ich mich ein, um zu warten, bis ich dran sei. Es gab mehrere Schalter und gut sichtbar waren die Buchstaben des Alphabetes angebracht, für die sie zuständig waren. Endlich war ich dran. Der Beamte war sehr freundlich und lachte. Ich verstand nicht so recht, was er mir sagen wollte, aber er wiederholte, ich sei am falschen Schalter. Am falschen Schalter, wieso, mein Name beginnt doch mit einem R? Ihr zweiter Name, das ist richtig erklärte mir der Beamte, aber Ihr erster Name beginnt mit einem H, nicht war? Er lachte immer noch. Da ging mir ein Licht auf. Erster Name gleich Vorname bei uns und zweiter Name gleich Familienname. Das Rätsel war geknackt. Bevor er mich dann tatsächlich zum Schalter für H geschickt hätte, sagte er, geben Sie her, und klatschte den Stempel auf eine leere Seite.

Die erste Nacht verbrachte ich in einem abenteuerlichen Hotel in der Stadt. Ich hatte ein Zimmer mit zwei Fenstern, wie es schien. Eines links, das andere rechts. Der Vorhang vor beiden zugezogen. Das ist wegen der Verdunkelung, dachte ich, löschte das Licht im Zimmer und zog einen der Vorhänge zurück. Ich fasste es nicht. Dahinter kam nicht ein Fenster zum Vorschein, sondern einfach nur die eine Wand des Zimmers. Es gab kein Fenster. An der gegenüberliegenden Wand gab es zwar ein Fenster, aber das hielt man besser geschlossen, wenn es überhaupt zu öffnen gewesen wäre. Es führte lediglich auf den Hotelflur, von dem die anderen Zimmer abzweigten. Mein Zimmer war ein Käfig, nicht mehr. Dafür 500 Dollar pro Nacht, auch nicht übel, dachte ich.

Am nächsten Tag zog ich in eines der großen Hotels einer französischen Kette, das hauptsächlich Ausländer beherbergte. Unmittelbar neben dem Hotel befand sich die IRNA, die Iraq News Agency. Über der Straße zog der Tigris mit schmutzig, braunen Wogen seine Bahn. An der IRNA vorbei, ein Stück weiter, nach links über eine Brücke, erreichte man schnelle den Suk, den Basar Bagdads. Die Luft war fast immer von Abgasen geschwängert, die das Atmen schwer machten. Schon nach wenigen Zügen brannten Nase,  Hals und Lungen.

Zur Hotelanlage gehörten Pavillons mit verschiedenen Restaurants und Läden. Die Leute saßen auch gerne in der Bar im 18. Stock, obwohl Nachts wegen befürchteter Luftangriffe meist verdunkelt war. Aus der Ferne hörte man Gefechtslärm. Artillerie oder Flugabwehr. Dumpfe und helle Schläge oft mit Pausen, über Stunden hinweg. Anfangs bist du schockiert. Später legt sich das dann, obwohl dir bewusst wird, wie nahe der Frontverlauf sein musste.

Ich war unterwegs für eine Firma, die mit der Regierung zu tun hatte. Keine Waffen, muss ich dazu ergänzen, damit kein falscher Eindruck entsteht. Mir ist aufgefallen, dass viele der Gebäude, in denen Besprechungen stattfanden, inmitten von Wohngebieten lagen. Auch militärische mussten darunter gewesen sein, weil sie von schwer bewaffneten Soldaten bewacht waren.

Einmal am frühen Abend eines normalen Tages, an dem ich viele Besuche abgewickelt hatte, und mich gerade daran machte, die Ereignisse des Tages in einer Notiz festzuhalten, gab es eine fürchterliche Detonation. Das Hotel erzitterte, wie bei einem Erdbeben. Sofort ging das Licht aus, die Klimaanlagen liefen aber weiter. Im ersten Moment dachte ich an einen Bombenabwurf. Die Iraner mussten durchgekommen sein, anders war diese Detonation nicht zu erklären. Vorsichtig schob ich den Vorhang zu Seite und sah zwischen den Pavillons aufgeregte Menschen hin und her laufen. Wahrscheinlich ein Treffer dort, hoffentlich nicht eines der Restaurants, schoss es mir durch den Kopf.

Überall zuckende blaue und rote Lichter. Polizei und Feuerwehren. Ich fuhr nach oben in den 18. Stock und bestellt einen Drink an der Bar. Außer mir waren noch einige andere Hotelgäste anwesend. Die meisten waren wohl auf ihren Zimmern geblieben, um abzuwarten. Aufgeregt bedeutete uns der Barkeeper, die Lammellen der Vorhänge nicht zu öffnen. Das sei Vorschrift und er wolle nicht in Schwierigkeiten geraten. Es gelang mir aber trotzdem, einen Blick nach unten zu werfen. Das gleiche Bild, blaue und rote Lichter. Ein große Anzahl kriegsmäßig ausgerüsteter Soldaten hatten den gesamten Platz abgesperrt. Niemand wäre durchgekommen. Das Telefon schlug an und der Barkeeper erklärte uns, dass niemand das Hotel verlassen dürfe. Also bestellte ich mir noch einen und beschloss, zu warten.

Es mögen gut zwei Stunden gewesen sein, die ich da an der Theke hockte und mir einige Whiskeys in den Hals schüttete, als der Barkeeper mit einer neuen Information aufwartete. Die Bar war mittlerweile gut gefüllt. Es habe einen Sprengstoffanschlag auf die IRNA gegeben. Das Gebäude sei fast völlig zerstört, aber dem Hotel sei nichts geschehen. Soweit man das bis jetzt sagen könne, habe es auch keine Opfer unter den Hotelgästen gegeben. Wie es draußen aussah, davon sagte er nichts, wahrscheinlich wusste er es auch nicht.

Glauben Sie mir, der Schock war groß. Ich stellte mir vor, wie oft ich diesen Platz bei der IRNA schon passiert hatte, und jetzt das. In der selben Nacht noch erfuhr ich, dass ein Selbstmordattentäter einen Lastwagen mit Sprengstoff gezündet hatte. Etwas im Fernsehen zu sehen oder in den Nachrichten zu hören ist etwas völlig anderes, als unmittelbar nebenan gewesen zu sein, als es geschah. Am anderen Morgen sah ich die Verwüstung. Die Fassade des Hauses war eingestürzt und ein kleiner Krater zeugte vom Standort des Fahrzeugs zum Zeitpunkt der Explosion. Viele Tote und verletzte es gegeben hat, darüber erfuhr man nichts.

Im Fernsehen liefen die ewig gleichen Aufzeichnungen, Saddam bei Ordensverleihungen, Saddam in Kindergärten, Saddam in Lazaretten, Saddam überall. Kein Wort über das Attentat. Nach Ansicht der Machthaber hatte es gar nicht stattgefunden.“

Mein neuer Freund bestellte der Einfachheit halber zwei weitere Drinks und sagte: „Als Absacker. Wir haben’s gut hier. Hier passiert doch nichts!“, sagte er, trank das Glas in einem Zug leer und verabschiedete sich.

Heute, über 30 Jahre danach, kommt mir diese Erinnerung hoch. Damals, als der Zeitgenosse im Irak gewesen war, gab es,  unbestritten, viele Einzelschicksale. Menschen verschwanden oder wurden in Gefängnisse gesteckt, aus denen sie nie mehr zurückkehrten. Saddam Hussein war aber Verbündeter des Westens. Sie brauchten ihn als Bollwerk gegen den Iran, wo seit dem Sturz des Schahs nichts mehr war wie früher. Hussein beherrschte das Land mit despotischer Brutalität, aber es gab eine Art Balance zwischen den Volksgruppen und Glaubensrichtungen, auch wenn sie erzwungen war. Was hat der Krieg, der Einmarsch der Amerikaner und ihrer Verbündeten für die Menschen dort wirklich bewirkt? Zehntausende oder gar hunderttausende Tote, Verletzte, Krüppel, zu tausenden vergewaltigte Frauen. War es diesen Preis wert gewesen? Ist die Region jetzt friedfertiger und das Zusammenleben für die Menschen besser geworden und von mehr Rechten begleitet?

Wenn aus Freunde Feinde werden, dann wird es immer übel, besonders für den Schwächeren. Vom alten Regime blieb nichts übrig. Vielleicht auch deshalb, damit wir nichts mehr fragen können? Zu interessant wäre es doch, zu erfahren, auf welchen Ebenen sich die verschiedenen politischen Freundschaften abgespielt haben, damals, als Saddam Hussein noch ein Freund des Westens gewesen ist. Manche Dinge passen nicht zusammen, formen nicht das Bild, das man uns vorgaukeln will. Vielleicht sind wir aber doch nicht so dumm, wie einige hoffen!

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