Das Wirtshaus war bis auf den letzten Platz gefüllt. Einige standen noch hinter der letzten Stuhlreihe an die Wand gelehnt oder halb auf dem Fenstersims hockend. Kein Mensch hätte geglaubt, dass diese Partei für ihre Veranstaltung so viele Bürger aus dem Dorf und dem näheren Umland zusammenbringen würde.

„Es ist bedeutungslos, um wieviel mehr ein Vorstand im Vergleich zu…, ja wem?,…verdient. Mehr oder weniger ist immer relativ und benötigt einen Bezug.“, schwadronierte ein etwas dicklicher Mann, so um die Vierzig, angetan mit einem feinen Zwirn, Hemd, Weste und natürlich einer Fliege. Natürlich deshalb, weil diese Fliege sein geckenhaftes Gestelze noch unterstrich. „Weil es aber an einer objektiven Bezugsgröße mangelt, ist jeder Vergleich willkürlich und je nach Motivation der Vergleichenden auch tendenziös.“, referierte der Mann mit ausladender Gestik und alle hingen wie gebannt an seinen Lippen, grad so, als käme von dort die heilbringende Botschaft, auf die schon alle so sehnsüchtig gewartet hatten. „Selbst ein Vergleich von Vorstandsbezügen untereinander bringt aus dieser Sicht nichts.“, sagte der Mann. „Unterschiedliche Branchen, Unternehmensgrößen, Gewinne, Verluste und, und, und! Was will oder soll man da vergleichen?“ Die Augen seiner Zuhörer strahlten, ihre Wangen glänzten und es hätte nicht viel gefehlt und sie hätten sich auf ihn gestürzt, in die Höhe gezerrt, ihn mit Weihrauch eingehüllt und mit Weihwasser besprengt. „Nur die Höhe der Bezüge alleine?“, fuhr er fort und unschwer war zu erkennen, dass die meisten längst den roten Faden der Rede verloren, aber dem Charisma des Redners verfallen waren. „Blödsinn, muss die Antwort lauten, denn niemand wird ernsthaft behaupten, dass beispielsweise die Höhe des Einkommens eines ungelernten Hilfsarbeiters vergleichbar sein muss mit dem eines Zahnarztes.“ Ja, ja, wie recht Sie haben, stöhnte eine Frau dazwischen. „Wir vergleichen gerne und viel. Es beruhigt so schön und öffnet immer auch ein Türchen, sich mit andern zu vergleichen, die selbstverständlich völlig unberechtigt mehr bekommen als ich. Vielleicht ein wenig überspitzt, mag sein. Was wir brauchen sind Tarifverträge für Vorstände, Direktoren, Hauptabteilungsleiter, Abteilungsleiter und so weiter, nur nicht für das einfache Volk, denn die haben schon welche!“ Jetzt waren sie nicht mehr zu halten. Männer wie Frauen brüllte es hinaus, wie recht er doch habe und man es den alten Ärschen, wie sie sich ausdrückten, endlich einmal zeigen müsse.

Albert Wanninger beobachtete den Zirkus mit Argwohn, schrieb eifrig mit und ließ sein Handy laufen, um alles wortgetreu aufzunehmen. Albert war von der Lokalredaktion einer Zeitung geschickt worden. Eines war ihm klar, die anwesenden Zuhörer konnten keine Arbeiter oder Angestellte sein, denn jene hätten ob dem Gesabber sicher nicht gejohlt und geklatscht. Seine zweite Erkenntnis: In dieser Gegend musste die Zunft der Selbständigen, Unternehmer oder Freischaffenden recht zahlreich angesiedelt sein.

Währenddessen lief der Redner zu ungeahnter Höchstform auf. „Und wem verdanken wir den ganzen Schlamassel, die Neidgesellschaft, den Unfrieden in den unteren Schichten?“ Albert Wanninger glaubte nicht, was er da hörte. Dieser Mensch plapperte aneinandergereihten Unsinn. Das musste doch jetzt das Aus sein! „Die Leute werden doch nicht von den Reichen in unserm Land abgehängt, sondern von den Ereignissen. Von den Ereignissen, die dadurch ausgelöst wurden, dass immer weniger Menschen eine Arbeit finden, die gut genug bezahlt ist, weil es immer mehr ANDERE gibt, die es für noch weniger machen. Und das liegt ja nicht in der Hand der wenigen Leute mit Geld, das haben doch jene zu verantworten, die immer mehr der ANDEREN hereinlassen!“ Jetzt war es raus! Die Alternative bestand aus dem bekannten Gewäsch, zusammenhanglos vorgetragen und darauf bedacht, es irgendwie jedem recht zu machen oder jedes Meinung kundzutun. Und? Die Zuhörer quittierten es mit schier nicht mehr endendem Geklatsche, Gejohle, Gepfeife und Getrampel.

Draussen holte Albert erst einmal tief Luft. Es war nicht zu glauben. Da standen Nobelkarossen neben Rostlauben. Also doch ein Querschnitt der Bevölkerung, der sich diesen Schwachsinn angehört hatte? Albert schnappte ein paar Wortfetzen vorbeieilender Besucher auf. „Hast ja recht, teilweise der komplette Schwachsinn, aber das macht nix, weil, wichtig ist nur, dass du morgen in der Zeitung einige der wichtigen Passagen ließt. Das bleibt bei den Leuten hängen, die denken nicht über Sinn oder Unsinn nach, dass ist denen egal.“

Das war es also, den Rednern dieser aus dem Boden geschossenen Partei kam es weniger auf die Inhalte an, sondern vielmehr darauf, möglichst viele Schlagworte abzufeuern. Schlagworte, die von manchen abgelehnt, dafür aber von anderen angenommen würden. Über den Verlauf einer Kampagne oder Periode heizten solche Reden die Gemüter an und verschafften die nötige Zustimmung, bis hin zum Wahltag! Das nenne ich Strategie!, dachte Albert. Und damit kommen die durch, weil jeder nur das hören will, was ihm gerade so passt!

Da hilft nur eins, sagte sich Albert, und klopfte seinen Text ins Laptop. Morgen sollten die Leser sich eine Meinung bilden können. Vielleicht war es ja noch nicht zu spät!?

Eine Partei für Alle? Titelte der Tagesanzeiger. Die Besucher der gestrigen Veranstaltung im Alten Wirt haben entweder nicht verstanden, was der Redner sagte oder es trotzdem in Kauf genommen. Fazit: Eine Rede voller Widersprüche, plump inszeniert, politisch wertlos, aber mit Zuspruch! Schlimm ist nicht, dass ANDERE hereinkommen, wie der Redner sagte, sondern, dass schon so viele hier sind, die nichts kapieren!

Ein Richter sagt: „Das muß unsere Demokratie aushalten!“ 

Ein Parteifunktionär sagt: „Wir müssen die Partei der Wähler werden, nicht die des Volkes!“, und er führt aus, was er damit meint, „niemand zahlt gerne Steuern, jeder will ein gutes Einkommen und niemand mag Leute, die ihm den Arbeitsplatz wegnehmen! Was schreiben wir also in unser Programm? Ja, meine Freunde, genau das: Wir senken die Steuern, wir erhöhen das Einkommen und wir lassen keine Fremden rein!“  Unser Programm spiegelt folglich den Wählerwillen wider und der Wählerwille ist die Summe aller Wünsche der einzelnen Wähler, gleich welcher Schicht er angehört. DAS wird uns stark machen, denn richtig formuliert, wird sich niemand dieser Strategie entziehen können! Diese Schlusspassage fügte der Parteifunktionär einem persönlichen Schreiben an seine geschätzten Vorstandskollegen und Kolleginnen bei.

Wird diese Strategie aufgehen? Bald schon sind Wahlen, dann werden wir sehen!

Foto: Jürgen Reiter