Die Wahlbeteiligung in Dingharting war überraschend hoch. Etwas musste die Menschen aufgescheucht haben. Allerdings muss auch gesagt werden, dass dieser Umstand am Sonntag um 18:00 Uhr, als die Wahllokale schlossen, noch niemandem bekannt war. Hochrechnungen und andere Prognosen, wie sie heute für die großen Städte üblich sind, lagen für Dingharting nicht vor. Dafür war die beschauliche Gemeinde in Oberbayern dann doch zu klein oder unbedeutend. Obwohl es auch ernst zu nennende Stimmen gab, die sagten, dass gerade Dingharting repräsentativ für  ganz Bayern sei. Schnell flochten dann andere ein: Aber nicht für Franken! Und selbst die Schwaben hegten Bedenken, ob sie nicht doch auch anders gestrickt wären. Nur die Oberpfälzer und die Niederbayern legten ob solcher Behauptungen keinen Widerspruch ein. Ihnen war es Wurscht, wie sie zu sagen pflegten.

Der seit ewigen Zeiten amtierende Bürgermeister jedoch hatte über die vielen Jahre seines Wirkens eine Nase dafür entwickelt, wenn sich etwas anbahnte, was so gar nicht mit seinen Vorstellungen im Einklang stand. Und diese Wahl war so ein Vorgang. Erstmals beschlich ihn ein eigenartiges Gefühl.

Die Sozis waren nicht das Problem, wie er zurecht meinte. Die hatte er im Griff, das heisst, da war eigentlich gar nichts zu tun. Die dezimierten sich selber, ohne jegliches Zutun seinerseits. Sie kapierten es einfach nicht. Hier, in Dingharting auf dem Land, interessierten irgendwelche Kita-Parolen oder nehmt es den Reichen-Sprüche nicht. Hier waren die Bauern wohlhabend und den anderen ging es auch nicht schlecht. Die aus der Stadt Zugezogenen wohnten und lebten hier, die Frauen versorgten die Kinder, und die Männer fuhren täglich in die Stadt zur Arbeit, ganz so, wie es eben früher auch der Fall gewesen war. Einfach alles intakt. Linkssozialistischen Quatsch brauchte man hier nicht.

Aber, da gab es eben noch diese Freien. Auch ein paar Grüne und Liberale versuchten es jedesmal wieder. Deren Geschrei und Gezeter kümmerte den Amtsinhaber schon gleich gar nicht. Das Liberalste und Grünste, was man in Bayern und Dingharting haben konnte, lieferten ohnehin die Schwarzen, also seine Partei. Die Parolen dieser Windlichter, wie er sie gerne nannte, kümmerten hier niemanden. Na ja, und wenn mal ein Grüner in den Gemeinderat käme, wen würde das schon jucken? Von den Gelben, den Liberalen, hatte es noch niemals einer geschafft, und das würde auch so bleiben. Für das Amt als Bürgermeister kamen sie ohnehin nicht in Frage. Also, für ihn persönlich drohte da aber auch nicht die geringste Gefahr.

Die Freien! Er wusste viel von ihnen. Seine Freunde und er waren eben eine eingeschworene Gemeinschaft, mehr als nur Spezis. Da konnte sich der eine auf den anderen absolut verlassen. Sie halfen sich untereinander, das war so. Schon die Väter, Großväter und noch weiter zurück haben sich gegenseitig unter die Arme gegriffen. Sogar mehr als das. Sie waren ein eingeschworener Kreis. Wer dazu gehören wollte, musste nicht nur große Anstrengungen unternehmen, um zu beweisen, dass er es ernst meinte, er musste sich irgendwie auch um das Gemeinwohl verdient gemacht haben.

Da kam es gerade gelegen, dass der Sohn eines vor Jahren neu Zugezogenen exzellente Verbindungen zu den Freien pflegte. Keine Geringere als seine eigene Ehefrau, eine gebürtige Dürnberger, deren Familie schon seit ewigen Zeiten in Dingharting ansässig war, hatte sich den Freien zugesellt und stand auf der Kandidatenliste dieser Partei. Ihr Gatte nun brauchte für ein ehrgeiziges Vorhaben die Zustimmung des Gemeinderates, also überlegte er nicht ganz zu unrecht, dass dieses um so leichter erreichbar wäre, wenn ihm der amtierende Bürgermeister dabei hülfe.

Der junge Spross spitzte fortan die Ohren und machte sich Notizen. Seine liebe Frau, wie er sie gerne vor anderen nannte, ahnte nichts von der Hinterhältigkeit ihres eigenen Ehegesponse. Aber ihm half es. Ist doch logisch, dass ich Sie unterstütze, sagte der Amtierende, als er vernahm, was der Bittsteller berichtete.

So kam es, dass in der Woche vor der Wahl Erstaunliches zu lesen war. Demnach soll der Spitzenkandidat der Freien nicht nur eine merkwürdig innige Verbindung zu einer Lehrerin am hiesigen Gymnasium pflegen, sondern, und das bewegte die Bürger insbesondere, auch aus der katholischen Kirche ausgetreten sein. Das mit der Lehrerin mochte noch hingehen, obwohl sich das natürlich für einen verheirateten Mann nicht geziemte, aber aus der Kirche ausgetreten, das ging gar nicht. Nicht in Dingharting!

Jetzt hatte das Warten ein Ende. Die Wahl war entschieden! Um es gleich vorweg zu nehmen: Der Amtierende musste in die Stichwahl! Das nicht Vorstellbare war eingetreten! Weniger als 50%, nicht zu fassen! Du glaubst es nicht, hörte man einen der Wahlbürger sagen, die Sozis! Das war in der Tat erstaunlich. Dass der Kandidat der Freien gestürzt war, wunderte niemanden. Das war klar, aber, wo haben denn plötzlich die Sozis diesen gigantischen Rückenwind hergenommen?

Aufschluss gab bei genauem Hinsehen ein Faltblatt, Farbe rot, das am Samstagabend, dem Tag vor der Wahl,  wie durch Geisterhand gesteuert, in die Briefkästen der Dinghartinger flatterte. Die merkwürdigen Klüngeleien des Bürgermeisters, war da gedruckt zu lesen. In agriebischer Kleinarbeit waren endlos scheinende Fakten aufgelistet, die dem Amtierenden die Schamröte ins Gesicht treiben musste.

Das sähe ganz nach Verrat aus, meinte der Bürgermeister zu seinen Getreuen. Es muss einer von uns gewesen sein, das steht für mich ausser Zweifel!, sagte er zu seinem Anhang. Das ganze Netz der Spezlwirtschaft war aufgeflogen. Ein unglaublicher Vorgang. Das ganze Netz? Nein, stellte der Amtierende nach genauem Hinsehen fest. Alle, bis auf einen, waren sie bloßgestellt. Und der Eine war ein enger Vertrauter von ihm, ein Mann, der die Zusammenhänge kannte. Besser kannte als jeder andere. Vieles von dem, was die letzten Jahre gelaufen war, war durch ihn gesteuert worden.

Ich versteh’s nicht, sagte der Bürgermeister eben zu diesem Mann. Warum nur? Du hast doch hier alles g’habt, was einer brauchen kann, net wahr? Du bist und bleibst a Narr und verstehst gar nix, gab der Angesprochene zur Antwort. Bist einem Großen auf die Zehen g’stiegen und hast es nicht einmal gemerkt. Jetzt sägen sie dich ab dafür, so ist es. Die Stichwahl wirst nicht gewinnen, dafür wird gesorgt werden.

Der Bürgermeister war sprachlos. Was ging hier bloß vor sich? Hättest dich erkundigen sollen, wer die Lehrerin ist, erklärte der Mann dem Bürgermeister. Welche Lehrerin?, fragte dieser. Na, des Gspusi von dem Kandidaten der Freien. Du hast es doch in die Zeitung gebracht! Was ist damit?, wollte der Bürgermeister wissen. Du weisst es nicht? Ich sage es dir: Sie ist die Tochter eines der Minister unserer gelobten Staatsregierung! Geht dir jetzt ein Licht auf?

Das war es also. Kurzentschlossen griff der Amtierende zum Telefon, rief besagten Minister an, entschuldigte sich wortreich und hatte eine neue politische Zukunft vor sich, als er den Hörer wieder auflegte. Schon am nächsten Tag hörte man in Dingharting, dass der Amtierende sich der Stichwahl nicht mehr stellen würde, gesundheitlich, wie er sagte.

Das läuft auf eine Neuwahl des Bürgermeisters hinaus, hörte man in den Wirtshäusern, und auch in der freien Presse wurde diese These nachhaltig unterstützt, denn niemand glaubte, dass der Sozi als einziger Kandidat bei der Stichwahl mehr als nur ein paar Prozente bekommen würde.

Der bisherige Amtsinhaber fuhr fortan montags nach München zur Arbeit und am Freitagabend oder Samstagmorgen wieder nach Hause. Es gab eben viel zu tun als Staatssekretär. Der Kandidat der Freien ist bald darauf samt Familie aus Dingharting weggezogen und die Lehrerin übernahm als erste Frau das Amt der Rektorin am Gymnasium. Wie sich herausstellte, war das in Umlauf gebrachte Verhältnis mit dem Freien eine Zeitungsente. Oder, wie manche auch behaupteten, niemand war am Beweis des Gegenteils interessiert.

Alltag in Dingharting, das war’s, mehr war nicht mehr zu berichten.

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