Langsam fallen die Schatten tiefer, verlieren sich in bizarren Formen und lösen sich schliesslich in der Dunkelheit der Nacht auf.

Es war kälter geworden. Nebelschwaden drückten aus den Bergen ins Tal und füllten Watte gleich Strassen und Gassen in den Dörfern. Nur schemenhaft drangen die Umrisse der Häuser, Bäume und Sträucher durch die vom spärlichen Licht der Straßenbeleuchtung erfassten Nebelwände.

Niemand schenkte den Männern Beachtung, als sie eilig hinter einen der örtlichen Supermärkte hasten. Sie waren einem Fahrzeug entstiegen, das an der beleuchteten Vorderfront des Geschäftes stand und schleppten allerlei Gegenstände mit sich. Die ziehenden Nebel gaukelten unwirkliche Bilder vor, und deshalb wäre wohl auch kein Mensch auf die Idee gekommen, nach dem Rechten zu sehen.

Vereinzelt zerrissen krachende und knatternde Raketen und Böller die Stille der Nacht – lange vor Mitternacht schon. Die Menschen saßen um Tische gedrängt zu Hause oder anderswo, alleine oder bei Freunden oder tummelten sich auf Partys. Allerorts eine ausgelassene Fröhlichkeit. Und doch nicht überall!

Einige der Männer hantierten mit Scheinwerfern, die sie auf Gestellen befestigten. Andere rollten Kabel von Trommeln auf Lafetten. Wieder andere montierten ein Dreibein über dessen Rolle in der Mitte ein Stahlseil geführt war. Irgendwo lief ein Aggregat an und plötzlich durchdrang gleißendes Licht das diffuse Bild des Nebels.

Ausgelassen drängten ein paar junge Männer gefolgt von lachenden Frauen ins Freie vor einer Gaststätte. Und wieder rumste es kräftig. Wahllos warfen sie Böller in die Gegend, deren Blitze die Nebel zerrissen. Manche hatten Sektgläser in der Hand und prosteten sich unentwegt zu.

Das Licht der Scheinwerfer tauchte die Szene in eine grelle Unwirklichkeit. Die Gesichtszüge der Männer wirkten fahl. Am Boden waren die Umrisse einer Öffnung zu erkennen, die sich als Schacht entpuppte, nachdem weitere Scheinwerfer ihre gnadenlosen Lichtfluten von sich warfen.

Irgendwo waren jetzt die Stimmen neuer lärmender Menschen zu vernehmen. Und wieder knallte es. Die Nebel machten Anstalten als wichen sie vor soviel nächtlicher Dreistigkeit zurück. Aber das war es nicht. Jemand hatte Fackeln angezündet und der Schein Bengalischen Feuers durchdrang die feuchten Partikel der Luft.

Schmale, Kanonenrohren gleichende Scheinwerfer auf Lafetten drangen mit beißender Präzision in die Öffnung des Schachtes. In die Wand eingelassene, U-förmige Tritteisen waren zu erkennen und weiter unten etwas Undefinierbares. Das Licht reichte nicht weit genug hinab. Es war so, als würde es von den schwarzen Schachtwänden geschluckt.

Eine Gruppe Burschen zog lauthals am Supermarkt vorbei und war bald nicht mehr zu sehen. Es schien, als habe der Nebel die Gestalten nebst Geschrei gleichsam aufgesogen. Für ein paar Sekunden war es beinahe unwirklich ruhig, gerade so als stünde die Welt still. Dann, mit einem Mal, drang das Knattern der Generatoren durch die milchigen Schleier. Männerstimmen schrieen etwas wie Kommandos.

Vor dem Supermarkt waren mittlerweile weitere Fahrzeuge eingetroffen. Gestalten sputeten sich, weiteres Gerät nach rückwärts zu schaffen. Einer der Männer war jetzt mit einem Geschirr angetan, wie es Bergsteiger tragen. Deutlich war auf seiner Jacke ein Schriftzug zu erkennen: NOTARZT. Er begab sich zum Schacht und jemand klinkte das Stahlseil mittels eines Karabiners am Tragegeschirr des Arztes ein. Dann bewegte sich der Mann vorsichtig auf den Schacht zu.

Eisen für Eisen stieg der Arzt hinab. Bald schon war nur noch der Schein der von ihm mitgeführten Stablampe zu erkennen. Noch ein paar Eisen und der Mann war am Fuße des Schachtes angekommen. Blitzschnell orientiere er sich und sprach über ein Funkgerät mit den Männern oben.

Aus einer benachbarten Wirtschaft flogen undeutlich derbe Wortfetzen herüber. Bis Mitternacht würde sich noch einiges anstauen. Der Alkohol! Streit um Frauen! Geschrei um Männer! Dann wieder Stille, durchdrungen vom Knattern der Generatoren, die den Strom für die Scheinwerfer lieferten.

Schwer hing der Mann am Haken des Stahlseils, das behutsam über eine Seilwinde nach oben gezogen wurde. Sie hatten solche Einsätze oft geübt, aber es war dann doch etwas anderes, wenn aus Übung ernst geworden war. Über ihm schwebte eine Art länglicher Sack, den er mit in die Tiefe genommen hatte. Er sorgte dafür, dass dieser während des Transportes nach oben nicht an die Schachtwände stoßen konnte. Dann war es geschafft!

Helfende Hände nahmen zuerst den Sack, dann ihn in Empfang. Ohne viele Worte legten zwei der Männer den Sack auf eine Trage, fixierten ihn, und eilten nach vorne zu den Fahrzeugen. Eine sichtlich betrunkene Frau versuchte zu folgen, kam aber immer wieder ins Stolpern und schaffte es erst, als die Männer bereits im  Notarztwagen zugange waren.

Die Gesichter der Menschen in den Gasthäusern glänzten fiebrig und immer mehr Alkohol dröhnte ihre Gehirne zu. Niemand bekam auch nur das Geringste mit, von dem, was sich am Supermarkt abspielte. Es war schließlich Silvester und die meisten waren geneigt, ihren Zustand bis in die frühen Morgenstunden hinein noch um einiges zu verschlimmern.

Schnell waren die Gerätschaften wieder in den Fahrzeugen verstaut und der Schacht gesichert. Minuten später schon deutete nichts mehr auf den Einsatz der Männer hin. Sie waren zurück gefahren zu ihren jeweiligen Standorten, um auf die nächsten Einsätze zu warten. Silvester war immer viel los. Das Schlimmste würde noch kommen, wenn die Betrunkenen, jede Vorsicht ausser acht lassend, alle möglichen Feuerwerkskörper zündeten. Oft auch selbstgebautes Zeug. Ein Gräuel!

Im nahen Krankenhaus übernahmen die Bereitschaftsärzte die kostbare Fracht des Notarztes. Ein kleiner Junge war in den ungesicherten Schacht gestürzt. Er hatte dort bei Nebel und Dunkelheit gespielt. Warum, war nicht zu sagen. Die betrunkene Mutter wusste es nicht. Sie hatte zu Hause gefeiert, mit Freunden, und den Buben einfach sich selbst überlassen.

Mitternacht rückte näher und das Geknalle nahm zu. Wie im Krieg! Beißender, ätzender Rauch und Geruch machte sich überall breit. Der Nebel verzog sich, gerade so, als wolle er mit dem anhebenden Spektakel nichts gemein haben. Raketen stiegen in den Himmel, Heuler zischten umher und Serienböller zerrissen die Nacht.

Rippenbrüche, Prellungen an den Beinen und eine üble Platzwunde am Kopf, das war das Resultat, mit dem der Junge vergleichsweise noch gut davon gekommen wäre, wie die Ärzte meinten. Jetzt lag er in einem Bett und die weißen Laken ließen sein kleines Gesichtchen noch schmäler erscheinen als es in Wirklichkeit war.

Die Mutter schickten sie nach Hause. Sie solle am nächsten Tag wieder kommen, wenn sie nüchtern sei, denn man habe hier keine Lust, auch noch sie versorgen zu müssen. Ein Taxi rief man ihr noch, das war’s.

Es blieb ein Rätsel, wer auf den Buben aufmerksam geworden war. Gerüchte machten allerdings bald schon die Runde, wonach es irgend welche Herumtreiber gewesen sein sollen. Asoziales Gesindel eben, sagten manche. Niemand meldete sich. Niemand trat dem Geschwätz entgegen.

So weiß man es bis heute nicht und wird es nie erfahren.

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