Ein sanftes Zittern wogte kaum merklich durch den schlanken Körper der Frau. Sie versuchte, die Kontrolle zu behalten und sich nicht dem schneidenden Schmerz ihrer Gefühle hinzugeben. Er hatte sie verlassen! Alles, für das sie gelebt hatte, war zerstört.

Rabatte von Lavendel verströmten jenen betörend, schweren Duft, der, vereint mit der Süße blühender Zitronen, laue Sommernächte  in Paradiese für Verliebte verwandelt. Da waren sie gesessen und hatten die Wirkung dieser betäubenden Atmosphäre eingesogen. Sie hatte sich fallen lassen, hatte es mit allen Fasern ihrer Sinne ausgekostet, nur seiner Stimme zu lauschen. Diese Stimme, die dem Mann gehörte, der sie auf so unbeschreibliche Weise in seinen Bann gezogen hatte. Diese Stimme; sie würde sie niemals mehr hören.

Ein Schluchzen entrang sich ihren Lippen, die leicht geöffnet, den Schmerz ihrer geschundenen Seele hinausschreien wollten. Aber es drang kein Laut über sie. Das Weiß der Zähne, ein wenig bedeckt vom Rot des Lippenstiftes, glänzten im Schein einer Laterne. Er hatte das so gemocht. Jetzt war es bedeutungslos.

Sie hatte ihn über alles geliebt und er sie! Sie wusste es, sie fühlte es, wie eine Frau es nur fühlen kann. Er hatte es ihr immer wieder gesagt. Jetzt würde er es nie mehr aussprechen. Sie fühlte sich so allein, unsäglich allein.

Wie hatte es nur soweit kommen können? Er hatte doch gesagt, er wolle nur schnell zur Tankstelle, alles richten, weil er am anderen Morgen zeitig los müsse. Dann kam er nicht mehr zurück, war plötzlich nicht mehr da! Das macht doch niemand!, schrie sie in ihrer Verzweiflung. Aber es half nichts.

Nie mehr würde sie sich in einen Mann verlieben können. Nie mehr sollte sie jemand derart verletzen. Was für ein Herz musste ein Mensch haben, der so etwas zu Wege bringt? Er war einfach gegangen, hatte nichts mitgenommen. Seine Sachen: Sie lagen noch in ihrer Wohnung. Kein Wort des Abschieds. Keine Erklärung, warum? War sie die Monate hindurch blind gewesen? Man kann doch Liebe im realen Leben nicht spielen, wie in einem Film oder doch? Er hatte sie belogen, von Anfang an belogen, ihr etwas vorgemacht, sie ausgenutzt, ihre Liebe missbraucht.

Sie würde es niemals verwinden können. Der Schmerz sass zu tief. Was war er für ein Mann gewesen? Er musste sie verachtet haben, denn wie wäre es sonst zu erklären? Aber warum nur? Tränen rannen über ihr Gesicht, verschmierten das make up und hinterließen schwarze Linien auf  der Haut.

Sie wusste nicht, wie ihr Leben weiter gehen sollte. Wie je mit dieser Demütigung fertig werden? Unmöglich! Ihre Freunde und Bekannten: Schon morgen würde das Getratsche losgehen und Fragen gestellt werden, die sie nicht beantworten konnte. Alle werden sie mitleidig ansehen und auf sie einreden, ihr Ratschläge erteilen, was jetzt zu tun wäre. Aber niemand würde wirklich einen Rat geben können, denn sie waren nicht in ihrer Lage.

Vielleicht sollte sie wegziehen. Eine andere Gegend brächte vielleicht die nötige Distanz. Nein, das war keine Lösung! Sie musste den Tatsachen einfach ins Auge sehen. Weglaufen würde nicht helfen.

Das Schrillen des Telefons zerriss ihre Gedanken. „Ich habe nichts verstanden, gar nichts. Würden Sie bitte wiederholen?“, sagte die Frau und dann: „Ja, ich komme.“

Hastig warf sie Schlüssel, Handy und Geldbeutel in ihre Handtasche, schlüpfte in ein Paar offene Schuhe, schmiss die Türe ins Schloss, sperrte ab und fuhr mit dem Lift in die Tiefgarage. Ein wenig unheimlich um diese Zeit, so alleine in den vom kalten Licht der Neonröhren erhellten Katakomben. Vereinzelt freie Stellflächen, ein Oldtimer, Motorräder, dort ihr Wagen. Zip, ein schmatzendes Geräusch, die Türen waren entriegelt. Zügig nahm sie die Ausfahrt, vorbei an der Tankstelle, zu der er hatte fahren wollen, und erreichte ein wenig später den Zubringer zur Stadt.

Unterwegs schossen ihr Gedanken, wie irrlichternde Blitze, durch den Kopf. Liebe, Eifersucht, verlassen werden! Jetzt, kurz vor Mitternacht war die Welt eine andere geworden. Nichts mehr war so, wie sie es mochte, und doch, etwas Neues, bisher Unbekanntes erfüllte sie.

Zehn Minuten später bog sie auf die Zufahrt ein, liess den Wagen irgendwo achtlos stehen und eilte auf den Eingang zu. Jemand rief ihr nach, sie könne den Wagen dort nicht stehen lassen, dann war sie schon vorbei, hetzte auf den Lift zu und wartete ungeduldig auf das Öffnen der Türe. Zweiter Stock, aussteigen, weiter, wohin?

Station 2 war auf einem Schild zu lesen, dann stand sie vor der Türe. Ihr Herz raste, der Atem war knapp. Eine kurze Pause nur, sich beruhigen, Luft holen! Jetzt! Das Klopfen an der Türe hallte in Ihren Ohren wieder. Mit einem Griff die Türe öffnen und …

Da lage er, inmitten weißer Bettwäsche, ihr ein und alles, ihr Liebster, ihr Leben! Ein schiefes Lächeln empfing sie, als er mit schwacher Stimme sagte: „Da bist du ja.“ Ohne Rücksicht auf ihn zu nehmen, warf sie sich auf ihn, küsste seine spröden Lippen und stammelte unentwegt: „Du bist nicht fort von mir, du bist hier!“

„Warum sollte ich fort sein?  Ich verstehe nicht!“, flüsterte er mit einem fragenden Blick. „Lass nur“, sagte sie, „ich bin etwas durcheinander.“ „Ja, das verstehe ich“ kam es kaum noch verständlich über seine Lippen. „An der Einfahrt zur Tankstelle: Ein Fahrzeug kam auf mich zu, mehr weiss ich nicht mehr. Als ich wieder zu mir kam, lag ich schon in diesem Bett und habe einen Arzt gebeten, dich zu informieren.

Überglücklich schloss sie die Augen, spürte, wie das Leben in sie zurückkehrte und die Last des Abends von ihr fiel. Warum hatte sie gezweifelt? Sie verstand es nicht mehr.

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