Amelia muss raus. Kein Wecker, der es ihr befielt. Es ist jeden Tag so, sieben Mal in der Woche. Auch heute, das Vieh im Stall, die Arbeit danach, Rahm abschöpfen, die Milchkübel nach vorne zur Straße geschleppt, der Molkereiwagen ist immer pünktlich.

Wenigsten müssen die Kinder heute nicht zur Schule. Welch kleines Privileg am Wochenende. Der Georg, ihr Mann, ist schon auf der Futterwiese, frisches Gras für’s Vieh. Das macht er jeden Tag, bevor er mit dem Bus zur Arbeit fährt, um sieben Uhr fangen sie an, im Sägewerk, nicht weit vom Hof. Ohne das Sägewerk könnten sie den Hof nicht halten. Er arbeitet dort bis zum Mittag, manchmal wird es auch später. Kleinere Sachen erledigen schon die Kinder. Die Hühner zum Beispiel.

Heute am Sonntag schleppt der Georg die Kübel zur Straße und Amelia richtet ein kleines Frühstück für sie beide. Sie freuen sich immer auf diesen Augenblick, an dem ein wenig Ruhe einkehrt in ihr sonst so arbeitsreiches Leben.

In der nahen Stadt reißen die Glocken der katholischen St. Georgs Kirche manche aus dem Schlaf und sie drehen sich schimpfend in ihren Betten um. Die meisten haben sich allerdings schon daran gewöhnt und hören es gar nicht mehr. Wenige von ihnen sind aufgestanden, um die Frühmesse zu besuchen. Ihre Zahl wird immer kleiner und schon sehr bald wird man auch hier rationalisieren und Gottesdienste zusammenlegen oder Kirchen schließen. Na ja, kommt ja nicht von ungefähr, wird mancheiner sagen, müssen halt mal nachdenken, die geistlichen Herren, dann werden sie schon draufkommen, woran es liegt.

Mathilde hört die Kirchglocken auch, aber sie ist schon lange aus dem Bett. Die kleine Tochter ist krank, hat Fieber. Mann hat sie keinen. Der hatte sich schon bald nach der Geburt der Kleinen aus dem Staub gemacht und Unterhalt zahlt er auch nicht. Die Gerichte konnten ihr nicht weiterhelfen, weil niemand weiß, wo er sich aufhält. Die Eltern springen ein, so gut es eben geht, aber heute am Sonntag, da wollen auch sie ihre Ruhe haben und Mathilde muß alleine fertig werden.

In einem Reihenhaus tönt ein Pipser im Schlafzimmer der Eheleute. Blitzschnell springt der Mann in der selben Sekunde aus dem Bett. Alarm! Er ist bei der freiwilligen Feuerwehr und hat Bereitschaft. Was ist los?, fragt seine Frau schlaftrunken. Einsatz, schlaf weiter, ich meld‘ mich später!, und weg ist er. Alles hunderte Male geübt. Es kommt immer auf die Sekunde an. Du weisst schon, heut ist Muttertag und wir wollten mit den Kindern …, ruft die Frau noch, aber er hört es nicht mehr.

Im Krankenhaus bereitet die Nachtschicht die Übergabe der Dienste an die Morgenschicht vor. Auf Station zwei wartet Schwester Renate auf ihre Kollegin, aber zur vorgesehenen Zeit ist niemand da. Besorgt blickt Renate zur Uhr im Stationszimmer. Zwanzig Minuten darüber. Ungewöhnlich! Die Kollegin ist immer pünktlich und absolut zuverlässig. Das Telefon schrillt. Ist gut, sagt Renate und legt zitternd den Hörer auf. Ihre Kollegin wird nicht kommen. Verkehrsunfall auf der Autobahn. Feuerwehr und Notarz sind schon vor Ort. Renate wird noch ein paar Stunden Dienst dranhängen müssen, bis Ersatz für die Ablösung gefunden ist. Muttertag, das wird heute nichts werden, sagt sie traurig vor sich hin und denkt an die Kinder und ihren Mann, die sich schon so auf den Ausflug gefreut hatten.

Am frühen Vormittag sind die ersten unterwegs. Autos vollgestopft mit Frau und Kindern und den Müttern, der eigenen und der Schwiegermutter. Manche fahren mit zwei Wagen, weil die Opas auch noch mit dabei sein wollen. Wer nicht vorbestellt hat, braucht erst gar nicht loszufahren. Am Muttertag gibt es nirgendwo einen freien Platz. Alle Gasthäuser sind überfüllt, das Personal genervt, die Gäste ungeduldig, als hätten sie schon tagelang nichts mehr gegessen. Viele bleiben gleich sitzen bis zum Nachmittag, dann kommt zum üppigen Mittagsmahl noch ein fetter Kuchen mit Sahne oben drauf. Freie Plätze werden sofort von neuen Gästen eingenommen.

Alle haben nur eines im Sinn: Der Mama soll es heute mal so richtig gut gehen. Später wieder zu Hause schlucken die so malträtierten Mütter Kaisers Natron oder andere Mittel gegen Sodbrennen. Manchen bleibt nichts anderes übrig, ob ihrere Lage ärztliche Notdienste zu bemühen. Auch die Krankenhäuser melden Aufnahmerekorde. Galle, Magen und noch andere Organe rebellieren. Das viele fette Essen, Wein und Schnaps, das verträgt eben nicht jeder. Manchmal sind es nicht die Mütter, deren Tag es doch war, sondern die Männer, die Opas, denen das viele Trinken nicht bekam. Da haben dann die Mütter wieder den Salat und sie müssen sich kümmern, ob Festtag oder nicht. Sie sind halt immer die Leidtragenden.

Da mag es so manchem Zeitgenossen in den Sinn kommen, den Müttern im nächsten Jahr vielleicht einmal etwas Gutes mit weniger Stress, Geschimpfe und Gezerre zu tun, denn wer sagt denn, dass sich Mütter über eine nette Aufmerksamkeit nur am Mutertag freuen? Die Muttertaggeschäftemacher werden es nicht gerne hören, aber Mütter verdienen mehr als nur an einem Tag im Jahr unser aller Aufmerksamkeit. Und wer den Offiziellen Muttertag dazu braucht, der sollte es lieber lassen, nicht wahr?

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