Als im Winter des letzten Jahres der Schnee auf sich warten ließ und so mancher in den Bergregionen um seine Existenz fürchtete, war die Stimmung der Menschen mehr als nur gedrückt. Die Gemeindeversammlung stand deshalb unter keinem guten Stern und der Bürgermeister frage sich, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen sei, ausgerechnet jetzt über die Zukunft zu reden.

Nur zögerlich füllte sich der Gemeindesaal und kurz vor Beginn der Veranstaltung waren immer noch Plätze frei. Da, am Eingang tat sich etwas. Eine Gruppe von Männern drängte in den Saal und im Nu war auch der letzte Stuhl belegt. Auweh, ausgerechnet der, bemerkte der Bürgermeister und meinte damit den Oberlechner, einen Bauern vom Ort, der mit seinen Söhnen und Schwiegersöhnen eingerückt war. An sich wäre dies nichts Besonderes gewesen, ging es doch heute Abend um ihrer aller Zukunft. Jeder im Ort und nicht nur hier, sondern im ganzem Landkreis, wusste aber sehr genau, wie wenig sich der Bürgermeister und der Oberlechner grün waren. Zweimal schon hatte der Oberlechner bei der Wahl verloren. Das letzte Mal war das Ergebnis besonders knapp gewesen und das wurmte den Oberlechner schon gewaltig. Sei’s denn, hatte er zu seinen Leuten gesagt, heut geht’s um mehr als dem Bürgermeister eins auszuwischen!

Der Geräuschpegel im Saal senkte sich nur geringfügig, als der Bürgermeister das Tischmikrofon zu sich herüberzog und die Aussprache eröffnete. Sollte die Gemeinde das Schigebiet mit mehr Schneekanonen bestücken? Das erste Thema schon brachte die Gemüter zum Kochen. Das wird ja zünftig, dachte der Bürgermeister. Hin und her flogen die Argumente. Am Schluss siegten dann die Lift- und Pistenbetreiber, die Hoteliers, die Vermieter von Fremdenzimmern, und das waren die meisten im Ort.

Der zweite Punkt an diesem Abend ließ die Wogen noch höher schlagen. Trassen! Der Strom aus dem Norden musste irgendwie auch nach Bayern kommen, aber keiner wollte die Leitungen und Masten vor seiner Nase haben. Biogas, tönte es von irgendwo aus dem Saal. Ja, du mit deinem Ranzn konnst de leicht selber versorgen. Brauchst bloß no an Anschluss legen!, rief ein anderer und das anhebende Gelächter war groß. Bei diesem Punkt gab es keine Einigung, obwohl es zunächst so schien, als sei eine große Mehrheit gegen die Trassen. Als aber dann einer der grössten Arbeitgeber am Ort erklärte, ohne billigen Strom zu überlegen, das Werk zu verlegen. Des miasst’s versteh, sagte er und erläuterte, warum es sich Firmen, trotz allen bayerischen Patriotismus‘, nicht leisten könnten, eine teuere Regionalstromerzeugung zu finanzieren. Mia ham scho am Mindestlohn zu kaun, führte er weiter aus und dass weitere Belastungen einfach nicht mehr tragbar seien.

Zaghaft versuchte einer der Grünen, sich Gehör zu verschaffen, um zu erläutern, warum die regionale Stromerzeugung nicht teuerer sei, als der Bau von Trassen. Aber er hatte an diesem Abend keine Chance. Hoits Mai!, schrie jemand und ein anderer fügte hinzu, schleich de mit deim Schmarrn. Fahr nach Berlin auffe und erlklärs‘ dene da obn! Ja, mia macha des so, wie mia des immer scho gmacht ham. Da brauchst koan wie di, host mi?

Der Oberlechner hörte sich den Zirkus eine ganze Weile an, ohne auch nur ein Wort zu verlieren, dann aber schien es ihm zu reichen. Mit donnernder Stimme ließ er seinen tiefen Bass durch den Saal rollen: Jetzt hörts endlich auf mit dem Kas! Des hältst ja net aus. Seits denn jetzt alle bläd? Und er erläuterte, warum es keinen Sinn mache, gegen die Trassen zu sein, weil Strom doch schliesslich alle bräuchten. Mia sollt’n lieber schaun, dass ma de Trassenführung bestimmen, statt ständig dagegen zu lamentieren.

Jetzt war es raus. Damit hatte keiner so ohne Weiteres gerechnet, dass ausgerechnet der Oberlechner dies gesagt hatte. Er, der doch sonst stets gegen alles gewesen ist, was vom Bürgermeister und seinen Getreuen gekommen war. Er, der noch nicht einmal in der Partei des Bürgermeisters war. Allerdings wurde gemunkelt, dass Oberlechner sich nur so lange von den Freien würde aufstellen lassen, bis er den Bürgermeister geschlagen hätte, dann aber mit fliegenden Fahnen zu den Schwarzen überlaufen würde.

Den Freien war dieses Gerücht nicht fremd und Oberlechner selbst gab hierzu keinerlei Kommentare. Heute Abend aber verfolgte er ein ganz bestimmtes Ziel. Gelänge es, den alten Rivalen festzunageln und ihn dazu zu verleiten, eine Position gegen seinen Parteivorsitzenden zu beziehen, dann könnten die Tage des Bürgermeisters schon sehr bald gezählt sein. Also setzte Oberlechner noch eines oben drauf. Moanst net a, Burgermoasta, dass mia jetzt endlich aufhörn soiten mit den blödsinnigen Argumenten, dass mia koan Strom aus dem Norden braucha?

Die letzten Worte Oberlechners hallten im Saal noch nach, denn mit einem Mal war es ganz still geworden und alles schaute auf den Bürgermeister. Ja, also, sagte dieser nach einer ganzen Weile und räusperte sich. Sein Hals war trocken. Gierig zog er schnell ein paar Schlucke Bier in sich hinein, dass man den Adamsapfel aufgeregt auf und nieder hüpfen sah. Dann fuhr er fort: Na ja, man könnt des durchaus schon so sehn, wie du sagst Oberlechner, aber i moan, dann soit’n mir uns einig sei und a alternative Trassenführung vorschlagen. Von mia aus hörn ma auf mit dem ganzen Gerede von Biogas und was woaß i no alles. 

Zufrieden lachte der Oberlechner in sich hinein. Jetzt hatte er ihn und aus den Augenwinkeln sah er, wie einige der Parteigenossen des Bürgermeisters nervös auf ihren Stühlen hin und her rutschten. Sie hatten begriffen, der Bürgermeister nicht. Immer wieder hatte der Parteivorsitzende der Partei des Bürgermeister doch betont, wie wenig er es für Bayern als notwendig sah, Strom ausgerechnet aus dem Norden für den Freistaat herbeizuführen. Und jetzt war ihm ausgerechnet einer seiner eigenen Volksvertreter in den Rücken gefallen.

Kaum hörbar brummte der Oberlechner einem seiner Söhne ins Ohr: Jetzt seit’s ihr dran, macht’sn fertig den Deppen! Und schon hob der Sohn an und brüllte hinaus, was viele dachten: Dann tu doch endlich was, statt immer nur schlau daherreden. Du bist doch der Bürgermoasta, hast as Amt und alle Möglichkeiten, bei deinem Chef endlich amoi auf’n Tisch zu haun oder traust de net, wia meistens?

Ein Tumult brach los und die Söhne und Schwiegersöhne trugen das ihre bei, dass es einige Zeit lang auch so blieb. Als dem Bürgermeister endlich ein Licht aufging, auf welche Diskussion er sich da eingelassen hatte, war es schon zu spät. Der Vertreter des Lokalblattes schrieb eifrig mit und schon am nächsten Tag würde jedermann seine gegen die offiziellen Verlautbarungen der Partei gerichteten Einlassungen lesen können.

Über viel anderes wurde nicht mehr geredet und gestritten in dieser denkwürdigen Versammlung. Der Oberlechner und sein Gefolge verließen den Ort beizeiten und nach und nach leerte sich daraufhin der Saal. Beim Hinausgehen zwinkerte Oberlechner noch kurz dem Schreiberling der Zeitung zu, grüsste nach links und rechts und fort war er.

Schon bald, nur wenige Wochen später, wurde es eng für den amtierenden Mann der Gemeinde. Die Zeitungen aus der Region setzten ihm arg zu, ja selbst der Parteisekretär meinte, im Freistaat könne schließlich jeder seine Meinung sagen, aber man müsse halt wissen, wohin man gehöre. Einige Monate danach wusste niemand mehr so genau, wie es eigentlich zum Rücktritt des Bürgermeisters gekommen war. Mit angeblichen Äußerungen Oberlechners, die bei jener Versammlung gefallen sein sollen, brachte die Misere des Amtsinhabers niemand in Verbindung. Solche Äußerungen, wenn es sie denn tatsächlich gegeben haben sollte, waren nicht überliefert. Im Protokoll der Versammlung jedenfalls war hierüber nichts vermerkt.

Wir brauchen einen Neubeginn, sagte Oberlechner, als er endlich das Amt als Bürgermeister antrat. Gefragt, was er konkret damit meine, erklärte das frisch gebackene Gemeindeoberhaupt selbstbewusst: Zuvorderst brauchen wir ein praktikables und bürgernahes Energiekonzept. Wozu Strom mit großem Aufwand und für viel Geld aus dem Norden in den Süden transportieren, wenn wir unsere lokalen Möglichkeiten noch lange nicht auch nur annähernd ausgeschöpft haben. Und er legte noch nach: Da war mein Vorgänger halt leider wenig flexibel und in alten Denkmustern gefangen.

Irgendwann einmal später bei einer der Wiederwahlen Oberlechners sollte sich auch niemand mehr Gedanken darüber machen, dass die Freien und die Schwarzen jetzt einen gemeinsamen Kandidaten hatten. Und noch später sagten die Leute, der Oberlechner sei schon immer bei den Schwarzen gewesen, etwas anderes wisse man gar nicht.

Foto: Hans K. Reiter,