Als der Leermoser Franz am späten Abend des 24. Dezember noch in die Berge stieg, sah keiner seiner Nachbarn, wie er schnell aus dem Kegel der Straßenbeleuchtung eilte, um mit dem Dunkel der Nacht zu verschmelzen. Er hätte hinterm Haus über den Zaun steigen können, aber das war ihm zu viel Aufwand. Am Heiligabend saßen die Leute in den Stuben beisammen, sangen fromme Weihnachtslieder oder lasen aus der Bibel vor. Niemand würde draußen sein und ihn bemerken. Den schweren Rucksack eng um die Schultern geschnallt, dass ihm die Riemen beinahe in die Haut schnitten, schritt der Leermoser zügig aus. Bis vor wenigen Stunden hatte es noch geschneit, sodass im Schnee tiefe Spuren zurückblieben. Es wird in dieser Nacht sicher noch mehr Schnee geben und die Spuren zudecken, sagte sich Leermoser, und stapfte weiter.

Das Weiss des Schnees erlaubte ein wenig Sicht in der sonst finstren Nacht und Leermoser kam gut voran. Eine gute Stunde mochte er so marschiert sein, als sich zur Rechten ein Tannenwald auftat. Leermoser bog einen kaum wahrnehmbaren Trampelpfad ein. Seine Augen musste er jetzt schon sehr anstrengen, um den Pfad im dichten Gehölz nicht zu verlieren.  Zielsicher kam er aber auch hier gut voran.

Der Anstieg kostete Kraft und Leermosers Atem entfuhr stossweise dem leicht geöffneten Mund. Noch eine Biegung und der Pfad endete unmittelbar am Rand des Waldes, der an dieser Stelle von einer nur wenige Meter entfernten schroff ansteigenden Felswand zurückgedrängt wurde.

Vorsichtig nahm Leermoser den Rucksack vom Rücken, stellte ihn auf den Boden und streckte wohlig seinen Rücken. Er blickte sich um, als wolle er sich vergewissern, dass auch wirklich niemand in der Nähe war, nahm den Rucksack auf und verstaute ihn in einer nahe gelegenen Felsspalte. Dann las er etwas Tannenreisig vom Boden auf, stopfte es in den Spalt, um schliesslich auch noch Schnee hinterher zu pressen. Niemand würde das Versteck entdecken.

Der zweite Weihnachtsfeiertag sandte schon am frühen Morgen reichlich Schnee auf das Dorf und seine Bewohner. Wenn es nicht nachliess, würden nur wenige Besucher den Weg in die Kirche finden. Die anderen würden zu Hause die Dächer von den schweren Schneelasten befreien und notdürftig Wege frei räumen, damit die wichtigsten Arbeiten am Hof erledigt werden konnten.

Der Leermoser war mit Schneeschuhen angetan schon zeitig aufgebrochen. In Sekundenschnelle verwehten die dichten Flocken jegliche Spuren und verbargen, wohin es den Mann schon so früh am Morgen hinzog. Dem Rucksack im Versteck entnahm er zwei Päckchen und eine Rolle, die aussah, als würde sie aus einer gedrillten Schnur bestehen. Des Weiteren zog er einen Stutzen heraus, jenes kurzläufige Gewehr, das viele der Einheimischen entweder ganz offiziell besaßen oder andernfalls versteckt hielten. Zwei Päckchen mit Patronen schob er in eine der Taschen seines Umhangs aus derbem Loden. Alles andere verstaute er zurück in den Rucksack und marschierte los.

Eine Stunde später hatte der Leermoser das eigentliches Ziel seiner morgendlichen Anstrengung erreicht. Vor ihm lag der einsam gelegene Hof der Leitners.  Seit er denken konnte, war seine Familie mit der der Leitners verfeindet. Sogar mehr noch. Schon sein Vater und Großvater hatten von dem ewig währenden Streit mit den Leitners erzählt. Wo es nur ging, versuchte einer dem anderen eins auszuwischen. Manchmal handelte es sich nur um harmlose Dinge, oft aber waren es auch deftige Gemeinheiten, so, wie zuletzt die von den Leitners.

Angeblich war einer ihrer Mistkarren während der Fahrt kaputt gegangen, weshalb sie eine Fuhre Mist just auf die Zufahrt des Anwesens der Leermosers kippten, andernfalls sie das defekte Fuhrwerk nicht hätten weiter bewegen können. So hatten sie es jedenfalls beim Dorfgendarm zu Protokoll gegeben.

Das Mass war voll, und deshalb stand der Leermoser Franz jetzt hier, wo er war. Franz legte über seinen Lodenumhang einen zweiten, weißen Umhang, der unverkennbar, einfach geschneidert, aus einem Bettlaken bestand. Dann nahm er die Rolle zur Hand,  befestigte die Enden zweier Drähte an einem Kasten mit einer Kurbel, über den er eine stabile Box aus einem leichten Plastikmaterial stülpte und am Ort zurück liess. Daneben packte er den, in einem wasserdichten Futteral eingeschlagenen Stutzen mit den Patronen. Während er sich auf das Haus zu bewegte, wickelte er die Zündschnur ab. Immer drauf bedacht, dass ihn keiner bemerken könnte, was angesichts des Bettlakens, das ihn umhüllte, im dichten Schneetreiben ohnehin kaum möglich gewesen wäre, dachte er.

Dieses Jahr Silvester wirst nicht so leicht vergessen, murmelte der Leermoser Franz, während er die beiden Päckchen mit Sprengstoff, wie sie ihn auch beim Absprengen von Lawinen verwendeten, unterm Dach auf der Rückseite des Leitnerhauses anbrachte. Das Dach war an dieser Stelle weiter herunter zum Boden gezogen, sodass er es leicht erreichen konnte. Die Zündschnur pichte er mit einer Art Plastilin am Gebälk fest. Prüfend blickte er noch einmal in die Runde, aber von der Zündschnur war wegen des Schnees schon nichts mehr zu sehen.

An Silvester hatte es keinen weiteren Schnee mehr gegeben. Ein strahlender, winterlicher Sonnentag verkündete die letzten Stunden des alten Jahres. Am Abend würde es in den Wirtshäusern hoch hergehen, und um Mitternacht würden die Gebirgsschützen, wie alljährlich, mit ihren Böllern das neue Jahr begrüßen. Ein mords Spektakel sollte es werden, auf den sich die Leute im Dorf schon lange freuten.

Gegen 22 Uhr machte sich der Leermoser Franz auf den Weg. Alles, was er brauchte, war schon seit Tagen vor Ort, ganz, wie er es geplant hatte. Lange vor Mitternacht erreichte er den Kasten mit der Kurbel. Den Stutzen zog er aus dem Futteral, schob zwei Patronen in die Läufe und wartete auf seinen Augenblick. Exakt, wenn die Böller der Gebirgsschützen den ersten Schlag taten, würde er die Kurbel drehen und den Zündknopf drücken. Nur den Bruchteil einer Sekunde später würde ein ohrenbetäubender Knall die Berge erschüttern und das Echo mit einem gewaltigen Getöse bis ins Dorf zurückschleudern. Die Sprengung würde einen Teil des Daches vom Haus der Leitners weggerissen haben. Die Leitners aber würden zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht wissen, dass der fulminante Knall seinen Ursprung in ihrem Haus genommen hatte. Wie alle anderen würden sie nämlich im Wirtshaus sitzen und sich wunderen, was geschehen wäre.

Kurz vor Mitternacht: Der Leermoser Franz dreht die Kurbel und richtet den Stutzen. Nach der Sprengung wollte er noch einige Salven hinüberschießen. Nur so, wegen der Gaudi, wie er meinte. Jetzt, gleich war es so weit! Noch ein paar Sekunden! Die ersten Böller. Den Zündknopf drücken! Ein entsetzter Blick in Franzens Augen! Zu spät sah er, was gar nicht sein konnte. Die Sprengstoffpäckchen! Links und rechts waren sie am Kasten mit der Kurbel befestigt. Wieso, warum? Dann zerriss eine wuchtige Explosion die kurze Stille zwischen den Böllern der Gebirgsschützen. Der Stutzen flog durch die Luft und entlud zwei Salven von Schrot, als die Hämmer auf die Zündkapseln knallten. Der Franz hätte aufgejault vor Schmerz, als das Schrot ihn traf, aber er spürte es nicht mehr.

Als die Leute vom Dorf am Hof der Leitners angekommen waren und das Ausmass der Verwüstung sahen, konnte sich niemand einen Reim auf das Geschehene machen. Sie fanden den Leermoser Franz zwar noch lebend vor, aber er konnte nichts mehr sagen, und schon wenig später war er verstorben.

Für einen der Leitners galt diese Unwissenheit nicht, aber er sagte nichts und behielt sein Geheimnis für sich. Er war es gewesen, der den Leermoser trotz aller Vorkehrungen beobachtet hatte und den Sprengstoff am Kasten mit der Kurbel befestigte. Damit künftig a Ruh is, wie er meinte.

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