Gnadenlos prasseln die vernichtenden Prognosen auf die Getreuen hernieder.

Knapp darüber oder darunter? Schuld ist diese ungeliebte Alternative. Einmal sogar unter 10 %, ein Desaster!

Wenn das so weiter geht, wird es nicht bloß eng, dann wird es dunkel, dann können wir zusperren!, bemerkt der Bierhüttel Josef, dem ich im Adler zu Dingharting gegenüber sitze.

Josef Bierhüttel, Regionalchef der arg gebeutelten Roten, hat spontan zugesagt, als ich ihn um ein Interview gebeten habe.

Was ist los?, frage ich.

Drüben im Osten, ich glaube, wir verstehen die Leute dort nicht. Da kommt es dann leicht zu Verwerfungen und im Ergebnis zu solchen Prognosen.

Aber Herr Bierhüttel…

Josef, ich bin der Josef. Auf dem Land sagen wir Du. S’ist einfacher.

Meinst nicht, es liegt an euch selbst, an der Partei? Nimm als Beispiel das Gerangel um den Vorsitz.

Ja, da sagst was. Erst vor ein paar Tagen haben wir uns in München den Kopf darüber heiß geredet. 

Verdutzt blicke ich auf einen Zettel, den der Josef aus der Tasche kramt und mir über den Tisch neben den Maßkrug schiebt.

Duden (c) ‒ Das Fremdwörterbuch, 10. Aufl. Mannheim 2010 – Intellekt: Fähigkeit, Vermögen, unter Einsatz des Denkens Erkenntnisse, Einsichten zu erlangen.

Hab‘ ich extra rausgeschrieben und den Genossen auf den Tisch geknallt, grad so, wie dir jetzt. Hat einer einmal darin geblättert?, frage ich die Runde. Kaum!, sage ich in die verblüfften Gesichter. Wie sonst könnte es sein, dass nahezu die gesamte Führungsriege der werten Genossen, gleich in welcher Funktion, unisono die immer selben Floskeln hinausposaunt, nämlich, warum gerade er/sie für den Vorsitz nicht zur Verfügung steht?

Mit Denken, Erkenntnis und Einsicht hat das nichts zu tun, fahre ich fort, denn müssten nicht gerade SIE, unsere erste Garnitur, um den Vorsitz streiten? Wenn nicht SIE, wer denn sonst?, schiebe ich nach.

Ich nehme einen Schluck aus dem Krug und gebe dem Josef die drei Sekunden, die er braucht, weil von mir nichts kommt.

Sie schauen mich an wie den Messias und ich rede weiter: Weil es nicht mehr anders geht, kriechen einige nun doch noch aus der Deckung. Voran der Herr Vizekanzler und Finanzminister, obwohl er vor zwei oder drei Wochen noch vehement erklärte, wie ihn sein Amt fordere, seine ganze Kraft abverlange und eine Kandidatur deshalb nicht infrage käme?

Und, hast eine passende Antwort erhalten?, frage ich schnell, als der Josef den Krug zum Munde führt.

Nicht direkt, aber einen Kommentar habe ich mir gemerkt: Macht nix!, hatte jemand gerufen, Gestern war gestern! Und eine Doppelspitze soll’s jetzt ja sein, da bleibt Zeit, logisch!

Wieder greifen wir zum Krug. Die Abstände werden jetzt bedenklich kürzer.

Unglaublich, empört sich Josef, wie diese Herrschaften davon überzeugt sind, ihr Verhalten würde Aufbruch und Neuanfang signalisieren!

Schaltet euren Verstand ein!, sage ich zu den Leuten und zeige auf den Zettel.

Gespannt nicke ich Josef zu.

Ihr kennt die Sorgen und Nöte der Menschen im Land, sagt ihr, so als gäbe es hierfür einen Einheitsgradmesser. Zur Erinnerung: Wir sind über 80 Millionen! Da gibt es keinen Einheitsbrei von Sorgen und Nöten, weder im Osten noch im Westen!

Und ich rede einfach weiter: Tatsache ist, wir haben nur eine begrenzte Vorstellung davon, wie es weitergehen soll. Sich dieses einzugestehen, wäre ein guter Anfang.

Respekt, Josef, sage ich, der sofort wieder Fahrt aufnimmt.

Ist es nicht eine Tatsache, schwadroniere ich weiter, unsere Führungsriegen sind nicht mehr in der Lage, brauchbare Ideen zu entwickeln und geben deshalb ihre Mandate immer öfter zurück an uns Mitglieder. Da möchte ich ihnen zurufen: Trefft doch gelegentlich selbst Entscheidungen! Spitzenämter und Spitzenfunktionen verlangen doch danach! Redet euch nicht heraus, indem ihr der Basis aufbürdet, was tatsächlich in eurer Verantwortung liegt!

Mein lieber Freund, bemerke ich, das ist stark, obwohl es schon eine Berechtigung haben kann, die Mitglieder bei weitreichenden Entscheidungen einzubinden, aber der Josef hört mir gar nicht richtig zu und ist schon wieder bei seiner Versammlung in München.

Eine letzte Anmerkung machte ich noch: Wenn ihr in Berlin in der aktuellen Form nicht mehr regieren wollt und glaubt, dies sei der Weg heraus aus dem Wirrwarr, dann sagt es offen und sagt auch gleich dazu, was ihr wirklich wollt! Wir alle und vor allem die Wähler haben einen Recht darauf, es zu erfahren!

So viel Enthusiasmus hätte ich beim roten Josef nicht vermutet und sage: Josef, ein beachtlicher Auftritt, aber meinst du auch, er hat etwas bewegt?

Ein wenig schon, glaube ich, denn manche haben mir nachher auf die Schulter geklopft, obwohl das auch wieder nichts bedeuten muß. Wenn wir uns aber nicht schleunigst auf einen neuen Kurs einlassen, dann wird der Zug weiterfahren, aber ohne uns.

Später, wieder zuhause, lasse ich den Nachmittag Revue passieren. Ein schneidiger Bursche, der Josef Bierhüttel.

Foto: Creative Commons Lizenz, flickr, Wendelin Jacober