„Wissen Sie, früher hat es an der Tür geschellt…“

„Geklingelt!“

„Wie, was…?“

„Bei uns hier in Bayern sagt man: ‚Es hat geklingelt‘.

„Ach so, wegen des Dialektes, meinen Sie?“

„Nein, denn sonst hätte ich gesagt: ‚Es hod glinglt.‘ Aber ich wollte Sie nicht überfordern und so habe ich auf die Dialektaussprache verzichtet.“

„Mhm, verstehe.“

Der Murtenthaler Mathias war sich allerdings ziemlich sicher, das sein Gegenüber nicht verstand, was sich in der Feinheit des bayerischen Dialektes, wie er ihn sprach, dem Oberbayerischen, ausdrücken und vermitteln ließ und was natürlich ebenfalls für die vielen anderen bayerischen Mundarten galt.

An sich wäre ihre Unterhaltung bedeutungslos gewesen, aber das Belehrende dieses Herrn wurmte Mathias schon ein wenig. 

Dieser Herr war nun kein Geringerer als der gegenwärtige Pfarrer der Gemeinde, weshalb ein gewisses Maß an Höflichkeit geboten war. 

Alleine dieser Umstand jedoch trug nicht gerade zu Mathias‘ Seelenfrieden bei. Wieso konnten sie keinen Einheimischen herschicken. Einen Pfarrer aus dem Norden, hier in Bayern, das konnte niemals gut gehen. ‚Weil keiner mehr den Beruf ausüben will‘, hatte ein Spezl gemeint, ‚und deswegen nehmen sie, was sie kriegen können, notfalls sogar einen Preißen.‘ 

„Nun Hoch…“, Hochwürden hätte Mathias beinahe aus alter Gewohnheit gesagt, konnte es aber gerade noch verhindern und sagte stattdessen, „…Herr Pfarrer, was war früher, wenn es an der Tür…?“

„Ja, ja, ehm…, da kamen immer wieder diese Zeugen Jehovas. Wie eine Plage durchkämmten sie das Land und die Leute hatten große Mühe, sie wieder los zu werden. Und immer wieder tauchten Sie auf, um die unschuldigen und unbedarften Menschen hinters Licht zu führen.“

Mathias wollte schon erwidern, was ihm ganz spontan auf der Zunge lag, schluckte es aber blitzschnell hinunter und setzte seinem Gesicht stattdessen ein strahlendes Lächeln auf.

„Herr Pfarrer, wie meinen…?“

„Heute mit dem Internet und diesen sogenannten Sozialen Medien ist das noch viel schlimmer geworden. Darauf wollte ich hinaus. Ein Teufelswerk ist das, ein Teufelswerk!“

„Vom Teufel verstehe ich jetzt nicht gar so viel“, konnte Mathias es nicht unterlassen, wenigstens eine kleine Spitze abzufeuern, „aber Sie werden es mir erklären.“

„Menschen betreiben auf YouTube dubiose Kanäle und verunsichern ihre Landsleute, wie seinerzeit, sie wissen schon, die Zeugen Jehovas.“

„Ich staune, was Sie alles so wissen. Und was konkret meinen Sie jetzt. Ich bin ganz Ohr, aus berufenem Munde zu hören, welchem Ungemach wir ausgesetzt sind?“

„Ich spreche von den Leuten, die andere aufhetzen, sich der Obrigkeit verweigern. Ein Beispiel nur.“

„Ja, wissen’s, das mit der Obrigkeit ist so eine Sache, auch und gerade bei uns in Bayern. Da müssten wir fast ins Historische gleiten. Ich meine die Braunen, war ja nicht gerade rühmlich, damals.“

„Das stimmt schon, aber schauen Sie in die Gegenwart, ins Heute!“

„Gibt es eine Gegenwart ohne Vergangenheit?“

„Ich meine konkret die vielen unsäglichen Behauptungen zu ganz brennenden Themen. Nehmen Sie als Beispiele den Klimawandel oder jetzt den Virus, die Pandemie, Corona. Mit unwahren Behauptungen und Halbwahrheiten wird diese Plage der Menschheit kleingeredet, geleugnet und die Anweisungen der Behörden missachtet. Es wird sogar zu Demonstrationen aufgerufen, die sich ausdrücklich nicht an die Auflagen halten wollen und so weiter.“

„Ich habe gelernt, dass eine Demokratie das aushalten können muss! Jeder Mensch kann doch anderer Ansicht sein, als die Regierenden und Behörden. Dann schauen sie halt, ob es noch andere gibt, die genauso denken, und gehen auf die Straße. Ist doch ein verbrieftes Recht, nicht wahr?“ 

„Ja, natürlich soll niemandem sein Recht genommen werden, aber wie erklären Sie sich dann, dass manche sogar behaupten, wir lebten in einer Diktatur und man deshalb die Freiheit zurückerobern müsse.“ 

Der Murtenthaler Mathias verstand sehr gut, was den Geistlichen umtrieb. Ihm gefiel es auch nicht, wenn Dinge ausuferten und Regeln zum Nachteil aller gebrochen wurden, aber er mochte eben nicht soweit gehen, dass man deshalb nichts mehr erlauben sollte. Recht und Ordnung auf der anderen Seite… – durfte der Staat die entstehende Herausforderung ungebremst laufen lassen? 

„Ich denke“, erwiderte er, „es liegt schon in staatlicher Verantwortung, Dinge, die nicht hinnehmbar sind, auch als solche zu benennen und dagegen vorzugehen. Aber mit Augenmaß und nicht mit dem Knüppel.“

„Und, leben wir in einer Diktatur?“

„Nein, natürlich nicht. Das wissen auch diejenigen, die das Gegenteil behaupten. Wie könnten sie sonst sagen, was sie sagen und tun, was sie tun?“

„Und der Hass, der mitschwingt bei dem, was sie sagen!“, der Herr Pfarrer schüttelte den Kopf, „dieser Hass, ich verstehe es nicht.“

„Weil es niemand dem andern direkt ins Gesicht sagen muss und anonym bleiben kann. Da sitzt er oder sie irgendwo und klopft in sein Handy, was ihm grad so in den Sinn kommt. Manche haben es darauf angelegt, zu beleidigen und herabzuwürdigen, weil sie dann den größeren Zuspruch erfahren, Daumen nach oben, Likes, wie man es nennt. Es ist für sie wie eine Trophäe. Manche wiederum wollen einfach herumpöbeln oder wissen nichts und rennen nur dem lärmenden Haufen nach.“ 

„Mathias, es sind aber nicht nur die vermeintlich einfachen Leute. Es geht durch alle Schichten!“

„Sie haben recht. Blitzschnell finden sich vermeintliche Experten, die im Netz ihr Publikum um sich scharen. Da braucht es schon ein wachsames Auge.“

„Warum glauben die Menschen diesen selbsternannten Experten mehr als den vielen anderen?“

„Ich weiß es ehrlich gesagt auch nicht. Eines fällt jedoch auf, oftmals verkünden diese Propheten, was ihre Gefolgschaft ohnehin gerne hören will, weil es besser in deren Bild passt oder weil die zusammengewürfelten Halbwahrheiten und Pseudofakten eine einfach gestrickte Sicht von an sich komplexen Zusammenhänge liefern und, entscheidend, es gibt stets einen oder mehrere Schuldige, auf die man zeigen kann.“

„Vielleicht haben Sie recht:“

„Vergessen wir dabei nicht, dass einige dieser Propheten auf dieser Welle auch Geld verdienen.“

„Wie denn das?“

„Schauen Sie zum Beispiel auf YouTube. Die Videos sind gespickt mit vor- und zwischengeschalteter Werbung. Nicht selten verkaufen die Herrschaften Bücher, Amulette, Shirts und was weiß ich nicht noch alles und sie rufen zu Spenden für ihre dubiose Arbeit auf und ich denke, sie werden sie auch nicht zu knapp bekommen.“

Beinahe hätte Mathias noch angefügt, dass ihnen die Kirchen und Religionsgemeinschaften mit gutem Beispiel vorangegangen sind und sie nur abkupfern, was seit Jahrhunderten blendend funktioniert. Aber er behielt es für sich. Es war nicht die Zeit dafür. Vielleicht später einmal. 

Mit einem Wink bestellte der Herr Pfarrer noch zwei Mass und bemerkte: „Wenn es nicht mehr frisch ist, schmeckt es auch nicht!“

„Wie wahr“, pflichtete Mathias bei. 

Photo: Hans K. Reiter