Als kürzlich Felix Baumgartner durch jenen schlimmen Unfall jäh aus dem Leben gerissen wurde, blieb nichts zurück. Trauer und Fassungslosigkeit nahmen dem Leben seiner Liebsten jeden Sinn. Sie konnten es nicht fassen. Warum?, fragten sie immer wieder, warum? Sie bekamen keine Antwort. Niemand konnte sagen, warum es geschehen war. Niemand! Keine Experten, keine Polizei, keine noch so klugen Menschen.

Nicht sehr weit entfernt von dem Ort, an dem Felix‘ Eltern wohnten und jetzt auch seine Frau und die Kinder, bis sie über das Gröbste hinweg wären, rüsteten sich die wenigen Leute des Dorfes, wie jeden Sonntag, um rechtzeitig zur Frühmesse zu kommen. Die kleine Kirche war gut besucht, denn sie kamen immer, wie es der Brauch seit jeher verlangte. Manche von ihnen waren gläubig, andere nicht so richtig, aber mit dem Herrn Pfarrer und dem Lieben Gott wollte es sich keiner verscherzen.

Es freut mich, dass du den Weg jetzt wieder öfter zum Herrn findest, sagte der Pfarrer zu einer jungen Frau, die man schon lange nicht mehr in der Kirche gesehen hatte. Erst in den letzten Wochen konnte man sie dort wieder des Öfteren antreffen. Die junge Frau sagte nichts, nickte nur und machte sich davon. Die anderen Kirchenbesucher nahmen kaum Notiz von ihr, vielleicht der eine oder andere, der sie von früher her kannte.

Ein tiefer Schmerz wühlte in ihr, als sie nach Hause eilte. Die junge Frau wohnte noch bei den Eltern, die eine kleine Landwirtschaft betrieben und wegen der vielen Arbeit nur selten den Weg in die Kirche fanden. Es war schlimm seit damals. Jeder Tag, jede Nacht eine Qual. Sie wusste nicht, wie sie es bewältigen könnte und ihr Gewissen peinigte sie beinahe zu tode. Ja, manchmal dachte sie in ihrer Verzweiflung daran, dem Ganzen ein Ende zu bereiten.

Nur noch selten traf sie die anderen. Es gab nichts mehr, worüber sie hätte lachen und scherzen mögen, zu tief hatten sich Wunden in ihre Seele gegraben. Die Freunde, sie wussten nichts, konnten sich nicht erinnern, das war ihr sehr bald schon klar geworden. Aber so konnte es, so durfte es doch auch nicht weitergehen. Sie musste es ihnen sagen, sie in die Wirklichkeit zurückholen, aber wie?

Ich tue es heute!, sagte sie zu sich und fasste den festen Entschluss, sie alle nacheinander anzurufen. Aber der Tag verrann und sie hatte, wie schon so oft davor, wieder nichts unternommen. Tränen rannen über ihr Gesicht, als sie zu Bett ging, und tiefe Schluchtzer ließen ihren Körper erbeben.

Nur mit Mühe fand sie am nächsten Morgen aus dem Bett. Sie hätte zur Arbeit gehen müssen, aber sie meldete sich krank. Auch das kam jetzt immer öfter vor. Der Mutter blieb die Veränderung ihrer Tochter nicht verborgen und so fragte sie, ob denn alles in Ordnung sei. Und die junge Frau schüttelte den Kopf, konnte nichts antworten und fiel der Mutter schlutzend um den Hals.

Die Mutter kannte ihre Tochter nicht mehr wieder. Das war doch nicht ihr Mädchen! Komm setz dich und erzähl!, sagte sie und schob die Tochter auf einen Stuhl. Da brach es aus der jungen Frau hervor und ungehemmt erzählte sie, was sie seit Wochen bedrückte. Und du bist ganz sicher?, fragte die Mutter und kannte die Antwort bereits.

Am Nachmittag kamen sie alle ins Haus der Eltern. Die Mutter hatte sie angerufen. Jetzt saßen sie um den Tisch in der Küche und lauschten, was die Freundin sagte. Die Gesichter wurden länger, keiner sagte ein Wort, betretenes Schweigen, unbeholfene Blicke, gesenkte Köpfe.

Es gibt keinen Zweifel?, fragte schließlich einer. Keinen Zweifel, antwortete die junge Frau. Ich sehe das Gesicht des Fahrers ganz deutlich vor mir, als unsere Scheinwerfer ihn treffen und er im selben Augenblick das Steuer nach links reisst! Ja, das Steuer nach links reisst!, wiederholt sie wie ein Roboter.

Bestürzt sind alle Augen auf sie gerichtet. Wir gehen zur Polizei, meinte einer. Wollen wir das wirklich?, fragte ein anderer. Ungläubig gruben sich die Blicke der jungen Frau in die Augen des Fragenden. Ist ja schon gut, ich meinte ja nur, stammelte dieser, dann herrschte wieder Ruhe.

Als die Aussagen zu Protokoll gegeben waren, sah der Polizist auf, nickte bedächtig und sagte: Respekt, es gehört Mut dazu. Ihr hättet es auch verschweigen können und niemand hätte es erfahren. Wie geht es jetzt weiter?, fragte die junge Frau. Das Protokoll geht zum Staatsanwalt und ihr nehmt euch einen Anwalt, den werdet ihr brauchen!, sagte der Polizist.

Später konnte man in einer Zeitung lesen, es lägen jetzt Aussagen zu dem tragischen Unfall bei der Staatsanwaltschaft vor. Näheres wisse man aber nicht.

Zu einer Verhandlung vor Gericht kam es nicht. Der Staatsanwalt stellte die Ermittlungen ein. Er kam zu dem Schluss, das Fahren der Jugendlichen quer über die Felder sei zwar als grober Unfug zu werten, aber begründeten keinen Straftatbestand. Eine Anzeige des Besitzers der Felder auf Schadenersatz liege nicht vor, sodass es auch hieraus keinen Handlungsbedarf gäbe.

Der Anwalt der Jugendlichen hatte in seinem Schriftsatz an den Staatsanwalt noch ausführlich erläutert, dass es nicht zu beweisen sei, ob die Scheinwerfer des Fahrzeugs der Jugendlichen tatsächlich das auslösende Moment für die Fehlreaktion des Fahrers des Unfallfahrzeugs gewesen wären und insofern auch die Aussage seiner Mandantin über ihre Wahrnehmung objektiv bewertet einem Trugschluß unterlegen haben könnte. Außerdem sei es grundsätzlich Sache des Lenkers eines Fahrzeuges, sich nicht von Begebenheiten abseits der Fahrstrasse zum Nachteil seines Fahrverhaltens beeinflussen zu lassen.

Das Leben geht weiter, das der jungen Frau und ihrer Freunde, aber auch das der Frau und der Kinder von Felix Baumgartner. Die Wahrheit bleibt verborgen, damit müssen sie leben und zurecht kommen.

Foto: Creative Commons-Lizenz, flickr, Mario Spann