Die Zeiten sind bewegt. Heute mehr als früher, möchte man meinen. Oder können wir uns an früher weniger gut erinnern? Vielleicht hatte mancher zu dieser Zeit noch nicht einmal das Licht der Welt erblickt und weiss deshalb nur aus Erzählungen und Berichten von jener sagenumwobenen Zeit.

Es scheint lange her: Adelsgeschlechter wurden hingemetzelt, Weltkriege geführt, Millionen Menschen in Gaskammern und auf Schlachtfeldern gemeuchelt und geopfert, Rebellion gegen das Establishment in den 68ern, RAF Terror und so weiter, bis heute.

Heute, ja heute ist es nicht viel anders, schossen Felix Baumgartner die Gedanken durch den Kopf, während er schon leicht schläfrig mit seinem Wagen auf der A 96 nach Lindau brauste. Es war wieder einmal einer jener freudlosen Abende gewesen. Stundenlanges, sinnloses palavern um Nichtigkeiten. Jeder war von sich überzeugt und dachte, er habe die Geschicke der Nation und der Welt mitzulenken. Am Ende wurde weniger um Inhalte als um Formulierungen gestritten. Und die Juristen unter ihnen, die waren dann ganz vorne mit dabei, ganz in ihrem Element.

Scheiße!, entfuhr es ihm, als er beinahe die Leitplanke touchiert hätte. Es brachte eben nichts, den ganzen Tag im Büro zu hocken, dann zur Sitzung der Partei und weit nach Mitternacht erst zurück nach Hause. Obwohl das ja so gar nicht stimmte. Zu Hause war er in München, aber, heute am Freitag, wollte er ins Allgäu, ausspannen. Seine Eltern hatten dort ein Haus in den Bergen, malerisch gelegen. Seine Frau und die Kinder waren schon am Morgen mit dem Zug gefahren.

Die Augen schmerzten, das Fahren strengte ihn an. Ab und zu ein entgegenkommender Scheinwerfer, sonst nichts los. Kein Verkehr mehr um diese Zeit. Vielleicht noch eine gute Stunde, dann hätte er es geschafft.

In einem der winzigen Orte entlang der Autobahn und doch soweit abseits, dass die Fahrgeräusche nicht mehr bis hierher drangen, löschte der Wirt das Licht. Sein Wirtshaus, ein beliebter Jugendtreff, lag zwar gleich neben der Kirche im Ort, aber bisher war es mit den paar Nachbarn gut gegangen. Ihre eigenen Sprösslinge waren ja ebenso unter seinen Gästen.

Draußen sah der Wirt noch, wie einer der letzten Gäste in ein Auto stieg und dieses sogleich zügig abfuhr. Die haben’s aber eilig, dachte er und schüttelte den Kopf. Früher hatte er oben, überhalb der Wirtschaft gewohnt, aber das war schon lange her. Ein paar hundert Meter weiter, im hinteren Teil des Ortes gelegen, hatte er ein Haus gebaut. Wie jeden Tag, legte er die Strecke dorthin zu Fuß zurück.

Felix Baumgartner kniff die Augen zusammen. Ein von rechts sich durch die Nacht bohrender Scheinwerferkegel irritierte ihn. Es sah gerade so aus, als führe ein Fahrzeug quer über die Felder auf die Autobahn zu. Das konnte ja nicht sein. Vielleicht einer der Bewirtschaftungswege zwischen den Feldern, die ein Einheimischer als Abkürzung nutzte. Dann war er schon vorbei und vergaß den Vorgang.

Im Auto saßen vier Jugendliche. Es war lustig gewesen. Natürlich hatten sie alle auch etwas getrunken. Das Mädchen am Steuer etwas weniger, aber die anderen waren ganz schön zu. Und so ging es hoch her während der Fahrt. Fahr doch gleich quer rüber durch die Felder, da wird’s bestimmt keine Polizei geben. Und so suchte sie sich einen Weg über die schmalen Feldwege. Der Wagen hüpfte und schlingerte dahin, als gäbe es nichts schöneres. Und je mehr sie kreuz und quer daherkamen, desto ausgelassener wurde die Stimmung im Wagen.

Im Haus der Eltern im Allgäu war längst Ruhe eingekehrt. Für Martina Baumgartner gehörte es zum Alltag, dass ihr Mann immer spät nach Hause kam. Als Generalsekretär der Partei war er halt pausenlos im Einsatz. Zahllose Besprechungen, Abendveranstaltungen, Sitzungen mit dem Parteichef und vieles mehr. Die Familie kam da schon ein wenig zu kurz.

Felix Baumgartner sah auf die Uhr, die Ausfahrt würde bald erreicht sein, dann noch eine knappe halbe Stunde. Er sehnte sich nach einer Dusche und dann ins Bett, endlich einmal ausschlafen. Wohlig streckte er die Beine, soweit das im Auto möglich war, und gab sich ein wenig seinen Gedanken hin. Plötzlich, wie aus dem Nichts, gleißende Scheinwerfer von rechts! Wieso von rechts?, fuhr es durch Felix Baumgartners Kopf. Instinktiv riss er  das Lenkrad  nach links.

Die jungen Leute wussten nicht, wie sie ihre Ausgelassenheit noch steigern könnten. Mit einem Satz schoss der Wagen über einen schmalen Erdwall, der vom Regen im Laufe der Zeit angehäuft worden war. Scheiße, die Autobahn!, schrie die junge Fahrerin. Mit Mühe gelang es ihr, den Wagen nach rechts auf einen parallel zu Autobahn verlaufenden Weg zu bugsieren.

Physikalischen Kräfte machen keine Ausnahme. Sie wirken unablässig, auf alles und auf jeden. Wie Pudding deformierten die Leitplanken den BMW Baumgartners. Dann schleuderte er nach rechts, legte vielleicht noch dreißig, vierzig Meter zurück, durchbrach den entlang der Fahrbahn verlaufenden Begrenzungszaun und prallte schließlich gegen einen unglücklich vor Jahren an dieser Stelle gepflanzten Baum.

Am andern Morgen, als Martina Baumgartner, die Kinder und die Eltern ihres Mannes am Frühstückstisch saßen, fehlte Felix, ihr Mann. Das war ungewöhnlich. Eigentlich meldete er sich, wenn etwas dazwischen kam. Diesmal nicht. Ein unangenehmes Gefühl beschlich sie. Es musste etwas geschehen sein.

Es dauerte Stunden, bis die Unfallstelle geräumt war. Die Feuerwehr musste Felix Baumgartner aus dem demolierten Wrack seines Fahrzeugs regelrecht herausschneiden. So etwas habe ich noch nicht erlebt, sagte einer der Feuerwehrleute. Der Notarzt schüttelte den Kopf. Leider, sagte er, ich kann da nichts mehr machen. Der Mann ist tot. 

Als man Martina Baumgartner später am Vormittag die traurige Nachricht überbrachte, meinte sie, eine Welt breche zusammen. Sie verstand es nicht. Sie hatten ihr gesagt, man wisse nicht, wie es passiert sei. Es gab keine Fremdeinwirkung, kein beteiligtes Fahrzeug, niemanden! Vielleicht war er kurz eingenickt, Sekundenschlaf, meinten sie. Die Untersuchungen würden vielleicht Klarheit schaffen, dann waren sie wieder weg.

Das Leben ging weiter. Martina wohnte mit den Kindern jetzt im Allgäu bei den Schwiegereltern. Die Untersuchungen ergaben nichts. Aber die Welt, ihre Welt, war eine andere geworden.

Foto: Creative Commons-Lizenz, flickr, Mario Spann