Als Friedrich am Montagmorgen aufstand, war die Welt für ihn in Ordnung. Nicht wegen der Uhrzeit, fünf Uhr dreißig zeigt das Display des Weckers, sondern deshalb, weil heute sein großer Tag war. Friedrich war  zweiundsiebzig und sollte zum ersten Mal in seinem Leben die Führerscheinprüfung ablegen. Mit dem Auto gefahren war er schön öfter, draußen auf dem Lande, bei seinem älteren Bruder. Jetzt sollte es dann auch legal möglich sein. Einen kleinen Wagen hatte er bereits gekauft und mit dem Händler vereinbart, dass er ihn heute abholen würde.

Der theoretische Teil sollte pünktlich um acht Uhr beginnen, weshalb  Friedrich rechtzeitig an der Fahrschule sein wollte, wo sich alle trafen. Die Tische im Unterrichtsraum waren mit Tischteilern versehen, senkrecht stehende Tafeln, etwa 40 cm hoch, damit die Prüflinge nicht von einander abschreiben könnten. Der Prüfer teilte die Fragebögen aus, und los ging’s.

Wieso kann man bei derart läppischen Fragen überhaupt durchfallen?, sagte Friedrich leise vor sich hin und setzte seine Kreuze in die Kästchen. Es schien, als habe er ein System der richtigen Antworten erkannt. Eins, drei, zwei, vier, und dann war die erste Antwort wieder die richtige. Friedrich lächelte und sprach etwas Undeutliches vor sich hin. Schon nach kurzer Zeit gab er seinen Bogen ab und verliess den Raum.

„Sie waren aber schnell fertig“, sagte einer, als sie auf das Ergebnis warteten. Wer den Theorieteil nicht bestand, konnte an der anschließenden Fahrprüfung nicht teilnehmen, also warteten alle gespannt darauf, wie sie abgeschnitten hätten. Dann war es soweit. Niemand war durchgefallen. „Sagen Sie, wie war es möglich, dass Sie diese vielen Fragen so schnell beantworten konnten?“, fragte ein anderer den Friedrich. „Mathematik“, gab dieser geheimnisvoll zur Auskunft. „Was heisst das?“, wollte der andere wissen. „Meiner Theorie nach ist die Reihenfolge der richtigen Antworten nach einem bestimmten Muster festgelegt. Das wird gemacht, damit die Auswertung der Bögen auch dann funktioniert, wenn die Lösungsschablone verloren gehen sollte.“ Der andere schaute Friedrich verständnislos an, fragte aber nicht weiter.

Die Fahrprüfung begann, und bald war auch Friedrich an der Reihe. Er steuerte den Wagen sehr routiniert, beachtete die Verkehrszeichen und folgte den Anweisungen des Prüfers. „Für einen Mann in Ihrem Alter fahren Sie erstaunlich gut“, sagte der Prüfer unvermittelt. „Wieso?“, fragte Friedrich, „fahren die Jüngeren denn besser?“ „Nein“, sagte der Prüfer, „so habe ich das nicht gemeint. Ich wollte nur bemerken, dass es mich erstaunt, wie gelassen und ruhig sie die Prüfung bisher gemeistert haben.“ Friedrich schien eine Weile zu überlegen und meinte dann: „Aber das ist doch kein Wunder. Fahren ist wie Mathematik. Es gibt Regeln, und denen muss man einfach folgen. Kennt einer dagegen die Regeln nicht, dann kann er fahren, wie er will; die Prüfung jedoch wird er niemals bestehen.“ Der Prüfer schaute verdutzt auf Friedrich und sagte: „Fahren Sie die Nächste links!“ „Das geht nicht“, entgegnete Friedrich schnell, bevor der Zeitpunkt zum Abbiegen erreicht war. „Wieso?“, fragte der Prüfer und eine winzige Spur von Gereiztheit schwang in seiner Stimme mit.

„Sehen Sie, auch das ist schnell beantwortet. Mathematisch gesehen musste diese Straße eine gegenläufige Einbahnstraße sein.“ Jetzt geriet der Ausdruck des Prüfers von Staunen in Ungläubigkeit, denn es stimmte tatsächlich. „Ich versteh’s nicht“, sagte er beinahe frustriert, „wie kann man so etwas mathematisch vorhersagen?“ „Ganz einfach“, antwortete Friedrich und erläuterte einem fassungslosen Prüfer, warum es nach Berechnung der mathematischen Wahrscheinlichkeit so sein musste, wie von ihm vorhergesagt. Er zählte auf, wie oft der Prüfer diese und jene Anweisungen erteilt hätte und warum deshalb unweigerlich jetzt nur noch die bei Prüfungen sehr beliebte Anweisung kommen konnte, in eine falsche Fahrtrichtung einzubiegen. „Denn, sehen Sie“, fuhr Friedrich fort: „Dort vorne rechts ist die Fahrschule und Sie werden mir gleich die Anweisung erteilen, rechts anzuhalten und einzuparken. Ist es nicht so?“ Der Prüfer gab sich geschlagen und erteilte genau diese Anweisung.

„Hier Ihr Führerschein“, sagte der Prüfer, händigte das Begehrte aus, und betrat die Fahrschule. „Ich brauche dringend eine  Pause“, erklärte er noch und schüttelte den Kopf.

Voller Stolz betrachtete Friedrich die Plastikkarte, die sein Führerschein ist, steckte sie in seine Brieftasche und winkte einem etwas entfernt stehenden Motorradfahrer zu. Dieser startete seine Maschine, fuhr heran und blieb neben Friedrich stehen.

„Stell dir mal vor, ich hätte versucht, meinen Führerschein schon Jahre vorher zu machen, es wär‘ nicht möglich gewesen“, sagte Friedrich lachend zu dem jungen Mann, der sein Enkel ist. „Komm‘ steig auf Opa und vergiss den Helm nicht!“, entgegnete der Enkel. Beide lachten, als die Maschine knatternd von dannen zog.

Zu Hause holte der Opa zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank und sagte, den Zeigefinger mahnend nach oben gestreckt: „Das bleibt unter uns, nicht wahr?“ „Keine Angst, Opa, von mir erfährt niemand etwas!“, antwortete der Enkel verschwörerisch. Friedrich entnahm seinem rechten Ohr einen Stöpsel, von dem ein schmales, kaum sichtbares Kabel zu einer Streichholzschachtel großen Box führte, die an seinem Hosengürtel befestigt war. „Vergiss die Kamera und das Mikrofon nicht“, sagte der Enkel. „Es soll doch niemand etwas von deinem Geheimnis erfahren!“

Als sich Friedrich aller Utensilien entledigt hatte, konnte er nicht mehr anders, als lauthals loszulachen, ja regelrecht aus sich hinaus zu brüllen. Kaum, dass er noch Luft bekam; japsend hielt er schließlich inne. „Hast du gehört, was ich denen für einen Käse über die mathematischen Grundlagen einer Fahrprüfung erzählt habe? Hätten die gewusst, dass ich nur deinen Instruktionen gefolgt bin, dass du die Anweisungen des Fahrlehrers auf deinem Naiv mitverfolgt hast und mir immer rechtzeitig sagen konntest, was zu tun war; ich glaube, das hätten sie nicht überlebt!“

„Ja, Opa, das war ein feiner Spass, und ich danke dir auch für das Auto, das wir jetzt gleich noch abholen werden. Das Motorrad kommt nur noch bei schönem Wetter  und zum Vergnügen auf die Straße. Aber sag‘ , willst du es dir nicht noch einmal überlegen?“

„Nein, nein“, antwortete Friedrich. Ich bin bisher nicht durch die Gegend gefahren und werde es auch jetzt nicht tun. Vielleicht ab und zu mal bei meinem Bruder auf dem Lande, wo keiner ist. Um’s Fahren ist es mir nicht gegangen. Ich wollt‘ nur zeigen, dass auch Alte noch etwas zu Wege bringen, und das ist mir gelungen!“

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