Der Erste Advent war beinahe unbemerkt ins Land gezogen. Es war eben nicht mehr die Jahreszeit dafür. Früher, ja früher, erinnerten sich die Älteren, da hat’s noch Schnee gehabt. Aber heutzutage? Schweren Schrittes stapfte der Weinzierl Ferdinand über das matschige Laub, das der Wind letzte Nacht von den Bäumen gefegt hatte. Sonst waren um diese Jahreszeit die Bäume längs leer,  brummte Ferdinand Weinzierl vor sich hin und beeilte sich, so gut er das mit seinen 85 Jahren noch konnte, den Marktplatz zu erreichen.

Gestern, am Samstag, haben sie den Christkindlmarkt eröffnet, wie jedes Jahr. Und wie die Jahre zuvor, so war es auch dieses Mal eine eher triste Angelegenheit geworden. Schwarz gähnte dem Ferdinand das grüne Tannenreisig entgegen, mit dem die Buden versehen waren, aber ohne Schnee wirkte alles irgendwie finster, unwirklich, nicht in die Jahreszeit passend. Die Buden, erleuchteten Höhlen gleich, boten feil, was sie immer feil boten: einen Haufen Kitsch neben Kunsthandwerklichem, daneben ratterndes Spielzeug jeglicher Art, Taschen, Geldbeutel aus Plastik und aus Leder, Tücher, Schals, Handschuhe, Socken und Bürsten. Ja, Bürsten. Wie jedes Jahr hatte der Bürstenmacher seinen Stand gleich neben dem in der Winterzeit abgedrehten Dorfbrunnen und die Leute kauften, was es sonst kaum noch irgendwo zu kaufen gab.

Eine Zeitlang blieb der Weinzierl Ferdinand angelehnt an einen Bratwurststand stehen und schaute dem Treiben zu. Fressbuden, wie er es bezeichnete, gab es mehr als andere Buden und Stände. Ja, saufen und fressen, das tun’s immer, egal ob’s ein Schnee hat oder nicht, sagte der Ferdinand zu sich und bemerkte, wie gegenüber aus riesigen Flaschen Glühwein in den Kessel nachgeschüttet wurde. Nicht einmal den machen’s mehr selber. Griesgrämig um sich blickend schlapfte er schließlich weiter.

Unbemerkt vom Gewusel zwischen den Lichterketten, Glühwein- und Bratwurstbuden, huschten ein paar schwarze Schatten durch die Finsternis dahinter. Bei Schnee wären sie vielleicht aufgefallen, aber so… Einer schien der Anführer zu sein, denn er gab Zeichen und dirigierte die anderen, wohin sie zu laufen hätten. Einer tauchte kurz im Schein einer Straßenlaterne auf, dann verschluckte auch ihn die Finsternis.

Gerade als der Weinzierl Ferdinand sich anschickte eine Virginia anzuzünden und den scharfen Rauch in seine Lungen zu inhalieren, geschah es. Er glaubte noch, einen Knall gehört zu haben, dann plagte ihn unwiderstehlicher Hustenreiz. Scheiße, entfuhr es ihm, denn er war seit weiß Gott wie lange ein geübter Raucher und seit vielen Jahren rauchte er nur noch dieses strenge Kraut.

Langsam gewöhnten sich Ferdinands Augen an das plötzliche Dunkel, das dem vermeintlichen Knall abrupt gefolgt war. Jegliche elektrische Beleuchtung war erloschen, die Buden, Stände und sogar der aufgestellte Christbaum lagen im Dunklen. Es stimmte nicht ganz. Da und dort Kerzenschein, Adventskränze, Kerzen in Glasbehältern, in Kandelabern, auf Tannengestecken. Die Leute schrieen durcheinander, jedes Gelächter war verstummt. Geschiebe und Gedränge dort, wo sich zuvor Gruppen dem Genuss ihrer Getränke und Speisen hingegeben hatten. Panik machte sich breit.

Da! Ferdinand sah es im Schein der flackernden Kerzen ganz deutlich. Gestalten, Kapuzen über die Köpfe gezogen, glitten durch die Menge, griffen nach Taschen und was die Leute sonst noch mit sich führten, sprangen blitzschnell über Theken, drängten die wehrlosen Menschen dahinter zurück, griffen nach Kassen, räumten Ware von den Ständen und warfen alles in mitgeführte Säcke. Ganz sicher war der alte Mann sich allerdings nicht, denn seine Augen waren nicht mehr die Besten und das schummrige Licht tat das seinige dazu. Lange dauerte dieser Spuk nicht, dann waren sie so plötzlich verschwunden, wie sie gekommen waren.

Hatte er sich am Ende alles nur eingebildet, Dinge gesehen, die so gar nicht stattgefunden hatten? Ferdinand nahm seinen Hut ab und strich sich mit der Rechten ein paar Mal über den Kopf. Vermaledeit war das. Ja, vermaledeit. Die Leute beruhigten sich etwas, gewöhnten sich an den Kerzenschein und fingen sogar vereinzelt an, das ganze Geschehen als besonderen Gag abzutun. Ist doch schön, so mit Kerzen…, hörte Ferdinand so manche Stimme sagen. Ja, super, sollte viel öfter gemacht werden, konnte er auch vernehmen. Und so gab es immer mehr solcher Äußerungen und Ferdinand grübelte und zweifelte an seinem Verstand.

Was war das? Ferdinand hob den Kopf, starrte auf den Platz vor ihm und wußte nun gar nicht mehr, was er von diesen so merkwürdigen Umtrieben halten sollte. Das Geschiebe und Gedränge hielt mit einem Mal wie auf Kommando inne. Scheinwerfer flammten auf. Da waren sie doch wieder, diese Kapuzengestalten! Ferdinand glaubte, zu träumen. Einige von ihnen führten tatsächlich kleine Scheinwerfer mit sich, wie er sie schön öfter bei Fotografen gesehen hatte. Gespenstisch, das alles.

Und plötzlich ertönte Musik aus der Menge. Viele der Kapuzengestalten streiften sich ad hoc ihre Pullis über den Kopf und… Ferdinand rieb sich die Augen. So etwas hatte er noch nie erlebt und er war sich sicher, niemand würde ihm diese Geschichte glauben. Da standen sie nun, nicht mehr schwarz und bizarr, sondern in leuchtendem Silber und Gold. Ja, es schien so, als überstrahlten sie alles, Engeln gleich, und mit gewaltigen Stimmen hoben diese unwirklichen Wesen an, Weihnachtslieder hinaus zu schmettern. Dem Ferdinand jagte ein Schauder nach dem anderen über den Rücken. So etwas, nein… Um ihn war es mäuschenstill geworden. Alle lauschten diesen himmlischen Stimmen und Klängen. Und dann…!

Wieder so ein Knall. Die erloschenen Lichter sprangen wieder an, schmerzten beinahe die Augen und tauchten den ganzen Weihnachtsmarkt wieder in dieses manchmal viel zu grelle Licht. Weg waren sie, die leuchtenden Engel, die Musik verstummt und kein Gesang verließ mehr eine der Kehlen. Es war wie immer, kein Hinweis mehr auf den soeben erlebten, dubiosen Vorgang.

Ferdinand Weinzierl machte kehrt, schüttelte immer wieder den Kopf und bahnte sich einen Weg durch den Menschenstrom. Zuhause schmiß es sich in einen Sessel, griff das Telefon und wählte die Nummer seiner jüngeren Schwester. Flashmob, hörte er sie sagen, nach dem er seine Erlebnisse geschildert hatte und wußte nichts damit anzufangen.

Eine merkwürdige Welt, dachte Ferdinand Weinzierl, kein Schnee und trotzdem irgendwie Weihnacht!

Flashmob: Der Duden sagt hierzu: (kurze, üŸberraschende šöffentliche Aktion einer gršößeren Menschenmenge, die sich anonym, per moderne Telekommunikation dazu verabredet hat)

Foto: Creative Commons Lizenz, flickr,kern.justin