Stammtisch im Bräu, Freitag, kurz vor halb neun: Seit ewigen Zeiten schon treffen sich die fünf Männer dort am ersten Freitag im Monat. Zwölf Mal im Jahr. Allerdings, so wußten manche der Alteingesessenen zu berichten, hat man die fünf des öfteren auch an anderen Abenden zusammen gesehen. Mal im Bräu, aber auch anderenorts. Früher, als es noch mehr Wirtschaften am Ort gab, waren sie überall gern gesehene Gäste. Dann hat es begonnen: Erst der Klosterhof, dann der Prinzregent, ja und jetzt gab es außer dem Bräu nur noch den Valentin, dafür aber zwei dieser neuen Bistros oder Cafes, wie sie sich nannten, für die Jugend und die Zuagroasten, also, die von auswärts zugezogenen.

Sogar der Bäcker hat seinen Betrieb aufgeben müssen. Zu wenig Kundschaft, sagte er. Die geh’n zum Supermarkt oder zum Billigbäcker, drüben in Oberreitingen. Metzger gab es schon lange nicht mehr. Mia schlachten nimmer. Zu viele Auflagen. Die fahren’s Vieh in’d Stadt. Es sei billiger, sagen sie.

Ja sogar mit der Schule kam es immer wieder zu Problemen. Zu wenige Schüler. Die Klassen zu klein. Da müssen wir auflösen, sagten die Verantwortlichen. Wurscht war es denen, dass die Eltern, meistens die Mütter, nicht wussten, wie sie die Kinder in die benachbarten Orte hätten bringen sollen. Is nix organisiert, sagten sie. Und: Warum machen’s net die Klassen wo anders dicht und schicken die Kinder zu uns?

So ging es langsam aber beständig den Bach hinunter und was die Leute wollten, schien schon lange niemanden mehr zu interessieren.

So dachten die einen. Die anderen aber, die von dieser Entwicklung profitierten, argumentierten völlig entgegengesetzt. Neue Arbeit. Es gibt neue Arbeitsplätze, sagen sie und schoben sich das Geld in die Taschen.

So tun sich zwei Lager auf. Unsere Fünf schließen sich gerne dem einen an, gleichzeitig aber auch dem anderen. Wie es eben gerade passt. Am Dorf mußt schau’n wo du bleibst, sagen sie gerne und verstehen sich dann als so etwas wie Volksphilosophen.

Bring noch a Runde, rufen sie der Bedienung zu und meinen damit noch ein dunkles Weißbier für jeden. Präzise: Weizenbock. Von November bis etwa Januar brauen sie ihn, den süffigen aber extrem starken Weizenbock. Fünf bis sieben gehen immer am Freitagabend.

Je mehr der Bock seine Wirkung tut, und er tut sie auf eine besonders hinterhältige Weise immer, desto hitziger werden die Wortgefechte. Nicht nur am Stammtisch.

Ist doch Wurscht, sagt einer, morgen ist doch Samstag. Blei’ma halt a Stund‘ länger lieg’n! Hast recht, aber du kennst mei Oide net, meint ein anderer. Nimmst dir halt a Neue, kommt prompt der wohl gemeinte Rat eines Dritten und ihre vom Bier rot angelaufenen und etwas aufgedunsenen Schädel brechen in wieherndes Gelächter aus.

Trotz fortgerückter Stunde kam, was kommen mußte, und, was einfach zu jedem Stammtisch gehörte: der unbändige Wille, Dinge nicht mehr hinnehmen zu wollen, wie sie bisher gelaufen waren.

Die achte Runde. Heut‘ läuft’s aber b’sonders guad, sagte einer der fünf bereits ein wenig lallend. Und später dann beim Neunten war es soweit. Es darf nimmer mehr so weitergehen. Und alle wußten was er meinte.

Und alles ging so weiter wie bisher. Ein Geschäft nach dem anderen machte zu. Die kleinen Läden waren eines Tages plötzlich verschwunden. Die alten Häuser mussten neuen weichen. Größer, mehr Stahl und Glas, moderner eben. Karge, von Architektur geprägte Gärten. Kitas, wo es früher keine gab, Kindergärten, die es gegeben hatte, geschlossen.

Das ist der Wandel, sagten manche, der Fortschritt, meinten andere, beides geht zusammen, wieder andere. Es treibt sie auseinander, auch solche Stimmen mehrten sich.

Unsere Fünf haben sich auseinander gelebt, aus den Augen verloren, Familien gegründet, sich mit den Verhältnissen arrangiert, sind weggezogen, haben neue Berufe gelernt, und vielleicht noch anderes. Aber wir wissen es nicht, können nichts darüber berichten, weil wir ihre individuellen Wege nicht kennen und auch nicht mehr zusammenführen können.

Den Stammtisch im Bräu gibt es auch nicht mehr. Den Bräu gibt es nicht mehr. An seiner Stelle hat sich dort ein nobler Landgasthof etabliert, mit einem Sternekoch.

Der Ort, das Dorf, ist nicht mehr das früherer Jahre. Heruntergekommene Viertel gibt es nicht mehr. Sie sind wohl situierten Quartieren gewichen. Leute mit Geld, mit gut bezahlten Berufen, Selbständige, Ärzte und Rechtsanwälte haben sich dort niedergelassen. Sie haben den Ort verändert, ihn zu dem gemacht, was er heute ist.

Eines Tages war auf einem der Tische im noblen Restaurant mit dem Sternekoch ein dezentes Schild angebracht worden: Stammtisch war darauf eingraviert und dazu die Namen sehr bedeutender Herren mit honorigen Titeln.

Und wie früher treffen sie sich jetzt jeden ersten Freitag im Monat, sprechen über dies und das, trinken statt Bier, einen vornehmen Wein, und genießen das Mal des privilegierten Kochs.

Foto: Creative Commons Lizenz, flickr, Travelswiss1