Wussten Sie, dass in Deutschland 95 Prozent aller Mordfälle aufgeklärt werden?, sagte Dagmar Hochfellner und wies mit der Hand auf einen Stuhl. Schwerfällig ließ sich der Mann im derben Lodenzeug darauf nieder, wobei er fauchend den Atem zwischen den Zähnen ausstieß.

Und warum erzählen Sie mir das?, fragte der Mann ungehalten. Ja, warum eigentlich? Dagmar Hochfellner stellte sich diese Frage selbst und war sich mit einem Mal gar nicht mehr so sicher, den Richtigen vor sich zu haben.  Verworren war das alles, aber die Indizien…

Eigentlich hatte sie in einem ganz anderen Fall recherchiert und war dann auf eine Spur gestoßen, die ihr keine Ruhe mehr ließ. Konnte es tatsächlich sein? Im Internet war sie auf einen Artikel über Die Faszination ungeklärter Kriminalfälle gestoßen. Und darin stand es schwarz auf weiß. Nach beinahe 30 Jahren waren die Ermittlungen im Mord an einer jungen Frau wieder aufgenommen worden. Im LKA fand sie weitere Einzelheiten dazu. Gut, sie musste zugeben, ihre Schlussfolgerung war etwas gewagt, aber das Bewegungsprofil des vor ihr sitzenden Mannes zeigte, dass er im fraglichen Zeitraum tatsächlich für einige Monate in Heilbronn gemeldet war.

Hören Sie, sagte Dagmar Hochfellner, es ist ihr gutes Recht, alles abzustreiten, aber Fakt ist, dass Zeugen Sie gestern Nacht am Tatort gesehen haben. Na und schon, erwiderte der Mann. Ich bin hier vom Ort und bin überall schon mal gewesen, vielleicht auch dort, wo Sie die Leiche gefunden haben. Aber ich hab‘ damit nichts zu tun. Ich weiß noch nicht einmal, wo das gewesen sein soll. 

Das war der Knackpunkt. Der Mann hatte angegeben, letzte Nacht herumgelaufen zu sein, weil es Streit mit seiner Frau gegeben habe und er deshalb nicht habe schlafen können. In der Gegend hatte es in den letzten fünf Jahren bereits drei Morde an jungen Frauen gegeben. Trotz akribischer Suche, hatte man in keinem der Fälle verwertbare Spuren gefunden. Kein fremdes Fahrzeug, keine Auffälligkeiten, einfach nichts. Jetzt, nach dem vierten Mord, könnte sich das Blatt gewendet haben. Anwohner hatten den Mann nämlich beobachtet, wie er gegen zwei Uhr morgens eiligen Schrittes aus der Parkanlage gekommen war, in der am Morgen ein Jogger die Tote gefunden hatte.

Mit einem Ruck erhob sich der Mann plötzlich, schob den Stuhl beiseite und meinte: Dann geh‘ ich jetzt. Eine Nacht bei Ihnen, das langt mir bis unter die Haut. Auf ein Zeichen hin drückte ein anwesender Polizist in Uniform den Mann zurück auf seinen Stuhl. Sie gehen nirgendwo hin, außer zurück in Ihre Zelle!, sagte Dagmar und bedeutete dem männlichen Kollegen, den Mann abzuführen.

Sie saß fest und brauchte dringend mehr Fakten. Die bloße Tatsache, dass er damals in Heilbronn gewohnt hatte und jetzt in der Nähe eines Tatortes gesehen worden war, würde nicht ausreichen, den Mann in Haft zu behalten. Jeder Anwalt würde ihn binnen weniger Stunden frei bekommen. Die Zeit drängte also. Nur, was tun?

Wenn sie richtig lag, musste es Hinweise geben, die sie bisher übersehen hatte oder, schoß es Dagmar Hochfellner plötzlich durch den Kopf, sie war zu sehr auf die beiden Zeugen fixiert. Zeugen können sich irren. Oft genug schon hatte sie es erlebt, dass Aussagen in sich zusammengebrochen waren, wenn plötzlich kleine Schnipsel von Details etwas anderes belegten, als Zeugen vorgaben, gesehen zu haben. Kleidungsstücke, die der Beschuldigte getragen haben soll oder Frisur und Haarfarbe wurden beschrieben, obwohl der vermeintliche Täter nachweislich einen Hut getragen hatte – und so hätte sie noch zahlreiche solcher Beispiele anfügen können.

Wenn es der Mann gewesen war, wenn er der Mörder dieser Frauen von Heilbronn war, der nun auch hier in der Region sein mörderisches Unwesen trieb, dann musste er etwas an sich haben, etwas unverwechselbares, das ihn überhaupt erst zu solchen Taten befähigte. Zahlreiche psychiatrische Gutachten würden ihre Thesen untermauern, andere vielleicht aber auch das genaue Gegenteil belegen. Und, ein entscheidender Punkt, der Mann würde nicht lange genug in Haft bleiben, um solche Gutachten überhaupt erst anstoßen zu können.

Wieder in der Zelle entledigte sich der Mann seiner Jacke, warf sie auf die Pritsche und setzte sich auf den einfachen Stuhl vor der Arbeitsplatte. Scheiß Situation! Wie war er da hineingeraten? Diese Kommissarin würde seine Frau ausfragen. Natürlich, sollte sie es ruhig tun. Wütend hatte er die Tür zugeworfen, irgendwann nach Mitternacht war es gewesen. Sie hatten wieder einmal, wie schon so oft, heftig gestritten, bis es ihm zu blöd geworden war und er nur noch hinaus wollte. Plan- und ziellos war er umher gestrichen, immer nur diesen einen Gedanken im Kopf. Dieses Miststück. Hinter seinem Rücken und ausgerechnet mit diesem Idioten, den er nur zu gut kannte. Scheiße! Dann war plötzlich diese Frau aufgetaucht. Er hatte sie zunächst gar nicht bemerkt. Schwer atmend stützte er seinen Kopf mit den Händen, um dann mit einem Mal aufzuspringen, ein paar Schritte hin und her zu laufen und sich schließlich auf die Pritsche zu werfen.

Ein stechender Schmerz durchzuckte ihn. Dieses blöde Frauenzimmer hatte sich doch tatsächlich gewehrt und ihm etwas in die Seite gerammt. Einen Ast vielleicht, der da zufällig gelegen war oder etwas anderes. Es war auch egal, aber es schmerzte höllisch und eine bläuliche Verfärbung rechts oberhalb des rechten Hüftknochens markierte die Stelle, wo sie ihn getroffen hatte.

Dagmar Hochfellner las indessen zum wiederholten Mal die Berichte der Spurensicherung. Gab es etwas, das ihr bisher entgangen war? Sie überflog den Obduktionsbericht – eine Aneinanderreihung medizinischer Fachausdrücke. Dann die Fotos vom Tatort, die Tote Frau, entsetzlich zugerichtet. Ein scheiß Beruf, dachte sie und schob die Fotos wieder zusammen. Dann sah sie es! Hastig nahm sie das Foto und starrte wie gebannt auf die abgebildete Hand der Toten.

Blitzschnell glitten ihre flinken Augen erneut über den Obduktionsbericht. Da stand es schwarz auf weiß! Schwellung an der rechten Handfläche, vermutlich hervorgerufen… Die Kommissarin griff das Foto von vorhin, starrte auf das Bild, dann auf den Obduktionsbericht. Logisch, das war es! Was jetzt folgte, war Routine. Den Staatsanwalt informieren, dann die Gerichtsmedizin und abwarten.

Unsanft wurde der Mann in die Wirklichkeit zurück gerissen. Trotz seiner Schmerzen war er eingenickt, als mit einem lauten Klack der Riegel der Zellentüre anschlug und eine scharfe Stimme ihn anwies, aufzustehen und mitzukommen. Zwei Beamte brachten ihn in den Sanitätsbereich, wo bereits ein Amtsarzt wartete. Bis auf die Unterhose alles ausziehen!, befahl ihm der Arzt und erklärte, er müsse eine weitere eingehende Untersuchung über sich ergehen lassen.

Die Proteste des Mannes wischte der Arzt beiseite und schob ihm eine richterliche Verfügung unter die Nase. Es ist besser Sie kooperieren, sagte der Arzt, dann wird es für Sie leichter und erklärte, dass er andernfalls die Hilfe der Beamten in Anspruch nehmen müsse. Was haben wir denn da?, fragte der Arzt und drückte leicht gegen die blau verfärbte Stelle am rechten Hüftknochen. Gar nicht schön, sagte er, während sich eine Woge von Schmerz ins Gehirn des Mannes fraß. Könnte ihre Niere getroffen haben. Wir sollten uns das morgen näher ansehen. Wäre nur zu Ihrem Besten. Denn mit Nieren sei nicht zu spaßen, erklärte der Arzt noch.

Sehen Sie, sagte Dagmar Hochfellner zu dem Mann, als er am nächsten Tag vorgeführt wurde, ich sagte es Ihnen bereits: 95 Prozent aller Mordfälle werden aufgeklärt. Und sie erklärte dem verdutzten Mann, wie sie auf das Foto mit dem Schlüsselbund in der Hand der Frau gestoßen war. Wissen Sie, ihr Opfer besaß noch einen Hausschlüssel, wie es sie früher gab, einen aus Eisen mit einem Bart am Kopf. Und als sie dann im Obduktionsbericht von der Schwellung an der rechten Handfläche der Toten gelesen habe, habe sie nur noch eins und eins zusammenzählen müssen. Die Frau müsse mit dem Schlüssel zugestoßen und auch getroffen haben, denn nur so sei die Schwellung an der Handfläche zu erklären. Rückschlag des Schlüsselendes auf die Handfläche, um das noch zu ergänzen, beendete die Kommissarin ihre Ausführungen und fügte hinzu: Jetzt wird es nichts, mit dem nach Hause gehen und zwar für eine ganze Weile.

Foto: Creative Commons-Lizenz, flickr, h.koppdelaney