Einzelne Schneeflocken verfangen sich im schlohweißen Bart und augenblicklich formen die Eiskristalle bizarre Strukturen im gekräuselten Haar.

Müde blicken die wässrigen Augen hinab. Eine Hand noch an der beiseite geschobenen Gardine, aber da ist nichts. Die Straße, der angrenzende mit Sträuchern bewachsene Platz, leer. Keine Menschenseele. Nicht einmal der Nachbar aus dem übernächsten Haus, der sonst immer mit seinem Dackel unterwegs ist – wie ausgestorben.

Kalte Luft dräng herein. Der Alte schließt das Fenster, verweilt noch einen Augenblick, geht schließlich die paar Schritte durchs Zimmer zu einem Sessel, davor ein winziges Tischchen, darauf ein Teller mit Lebkuchen und etwas Weihnachtsgebäck.

Die Kinder von gegenüber haben es ihm heute Vormittag gebracht, liebevoll verpack in einer Tüte mit Weihnachtsmotiven.

„Es geht eben dieses Jahr nicht“, hatte ihn sein Sohn vor einigen Tagen angerufen. Und seine Tochter kam schon lange nicht mehr regelmäßig. Wie auch, lebte sie mit Ihrer Familie doch fernab irgendwo im Osten.

Ihn fragte niemand, ob er trotz all dieser Einschränkungen gerne einen Besuch gehabt hätte. Wenn er ganz ehrlich zu sich war, dann wusste er es selbst nicht, jedenfalls nicht im Augenblick.
Natürlich verfolgte er im Fernsehen die verschiedenen Nachrichten und Kommentare. Die ganze Welt schien verrückt zu sein. Heimtückisch diese Krankheit!

Zum Ende des Krieges war er gerade dreizehn gewesen und an manches konnte er sich noch sehr genau erinnern. Sirenen heulten und die Mutter zog ihn hurtig in den Keller. Und oft war die Umgebung nachher verwüstet. Häuser brannten, Leute liefen schreiend umher, gelegentlich bemühte sich die Feuerwehr zu retten, was nicht mehr zu retten war. Soldaten der nahen Kaserne halfen so gut sie es vermochten, aber meist vergeblich. Da und dort ein Schutthaufen mehr, aus dem Möbelteile und anderer Tand hervorragten.

Heimtückisch! Ja, das war es gewesen, heimtückisch, weil niemand etwas dagegen tun konnte. Es kam einfach. Flieger, Bomben, Feuer, Tot, aus!

Politisch hatte er damals natürlich nicht gedacht. Der Vater war im Krieg, irgendwo, sie wussten es nicht einmal genau. Manchmal, wenn einer auf Heimaturlaub war, und Grüße ausrichtete, erfuhren sie ein wenig mehr.

Heute waren die Umstände andere. Jedoch wieder war er, waren alle bedroht. Und man konnte nichts machen, es war eben da. Na ja, ein wenig vielleicht doch, dachte er. Die Regeln befolgen, aber das tat er ja ohnehin. Und trotzdem empfand er es als ein Ausgeliefert sein, bar einer Chance auf reale Gegenwehr. Du kannst nicht gegen etwas  kämpfen, das du nicht siehst. Er, in seinem Alter, ohnehin nicht.

Einen Vorteil sah er allerdings schon bei sich. Einsicht! Er besaß Einsicht. Er verstand die Gefährlichkeit und er verstand, dass nur wenig wirksamer Schutz zur Verfügung stand. Keine Medikamente, kein Impfstoff, eine fatale Lage.

Dann gab es die anderen. Sie waren dagegen, sagten, diese Bedrohung gäbe es gar nicht, sei alles nur Erfindung, um das Volk gefügig zu machen, dem Staat als quasi Sklaven unterzuordnen. Andere meinten, obskure nicht näher bezeichnete Mächte stünden dahinter oder sogar einzelne Personen, die nach der Weltherrschaft strebten. Und sie sagten, wir lebten in einer Diktatur. In einer Diktatur?

Sie besaßen keine Einsicht, leider, wie er meinte. Sie wissen noch nicht einmal, was eine Diktatur ist, haben sich nicht kundig gemacht und lallen nach, was ihnen ihre Messiasse vorplärren. Skandieren, sie seien das Volk!

Blödsinn! Sie gehören dazu, aber sie sind nicht das Volk. Da sollten sie mal ein Buch zur Hand nehmen und nachlesen, was ein Volk ist. Philosophisch oder staatsrechtlich betrachtet, sie erfüllen keine der Bedingungen. Und schon gar nicht diese Reichsbürger und ihre Sympathisanten. Was soll das denn für ein verquerer Unsinn sein. Alle Annehmlichkeiten des Staates, den es ihrer Ansicht nach gar nicht gab, in Anspruch zu nehmen, um dann zu reklamieren, dass man dieses System nicht akzeptiere und nicht anerkenne. Das verstehe, wer will.

Selbstverständlich, so resümierte er, könne doch jedermann dieses Land verlassen und sich nach freier Entscheidung hinbegeben, wo die Verhältnisse seinen Vorstellungen idealer oder besser entsprachen. Tut er es nicht, darf er nicht erwarten, der Staat würde seine umstürzlerische Gesinnung gutheißen. Das will die Mehrheit dieser Gesellschaft nicht und übrigens auch das Grundgesetzt nicht.

Der alte Mann grübelte und Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Seine Frau, ja, da war es ihm so ergangen wie vielen anderen auch. Irgendwann hatten sie sich getrennt und er hatte keinen neuen Anschluss mehr gefunden oder auch nicht gesucht. Freunde oder gute Bekannte hatte er schon, manche davon jünger, ältere aber logisch kaum. Wahrscheinlich saßen sie heute zuhause, hatten Besuch bekommen von den Kindern oder Verwandten, manche blieben vielleicht auch alleine wie er.

Zu ihm war niemand gekommen. Ehrlich, gewünscht hätte er es sich schon. Nicht wegen Weihnachten oder doch, ein wenig auch deshalb, sondern einfach nur, weil es schön war, hin und wieder mit jemandem zu reden, nicht nur Floskeln beim Einkaufen auszutauschen.

Vielleicht war es für viele gar nicht mal so übel, wenn sie in diesem Jahr keinen oder nur wenig Besuch bekamen. Gab es nicht gerade an Weihnachten beständig Streit aus  nichtigem Grund?

Er wollte nicht einmal über Weihnachten herziehen, es war ihm nur so in den Sinn gekommen.

Was machst du alleine heute Abend?

Keine Geschenke, keine aufmunternden Worte, niemand, der sich ein paar Stunden für dich Zeit nehmen wird!

Geschenke? War es nicht oft der blanke Unsinn, um es freundlich auszudrücken, was sich da so hinter dem Geschenkpapier verbarg?

Egal, trotzdem war es immer irgendwie ein prickelndes Gefühl gewesen. Ja, gewesen! Die Zeit vergeht und in diesem Jahr ist es eben anders. Damit müssen sich alle abfinden oder zurechtfinden, sich arrangieren. Im nächsten Jahr…

Das Buch entgleitet den Händen des alten Mannes, sein Kopf sinkt auf die Brust. Er hört die Glocke an der Türe nicht mehr: ding, ding, dong…ding, ding, dong…

Foto: Hans K. Reiter