Sie glauben also, dass jeder Mensch seinen Punkt hat?
Ja, hat er.
Geht’s ein bisschen genauer?
Geht es, aber wozu?
Damit ich es verstehe!
Sie werden es nicht verstehen! Aber, wenn Sie wollen, kommen Sie morgen wieder.

Sie hatten sie geschickt, sie, neu im Job, sie, frisch von der Uni. Rede mit ihm, vielleicht spricht er ja mit dir, mit den anderen hat er’s nicht getan. Zwecklos!

Paulsen, ein Eigenbrötler? Paulsen, ein Querulant? Paulsen, ein…, ja was oder wer ist Paulsen? Verdammt! Logisch, der Chefredakteur, die ganze Zeitung – sie, die Neue, soll gleich von Anfang an wissen, wo hier der Hase lang läuft!

Sie haben es gespürt?
Was gespürt?
Als Sie gestern gegangen sind. Sie haben gespürt, nein, Sie haben gewusst, dass man Sie hereingelegt hat. Es hat Sie getroffen, stimmt’s?

Sie, Helga Feddersen, jetzt mit Abschluss, Literaturwissenschaften und Journalismus, früher Volontärin bei verschiedenen Zeitungen, jetzt auf Probe bei der Überregionalen. Sie musste da durch, es ihnen zeigen!

Ja, Sie haben recht, ich habe mich darüber geärgert.
Sehen Sie, wie ich sagte, es hat Sie getroffen. Nicht die Tatsache als solche, dass man Sie zu mir geschickt hat, sondern der Umstand, dass Sie das Warum nicht gleich durchschaut haben.

Worauf wollte Paulsen hinaus? Sie sollte einen Artikel über ihn schreiben – momentan jedoch führte nicht sie das Gespräch, sondern er.

Gehen Sie nach Hause, denken Sie nach, was Sie wirklich wollen, von mir, von sich selbst. Wenn Sie es herausgefunden haben, kommen Sie wieder oder auch nicht!

Ein merkwürdiger Mensch. Was wusste sie über Paulsen? Jeder Mensch hat seinen Punkt! Wo war sein Punkt? Klar, das war es, was er ihr sagen wollte. Ein Blatt Papier, irgendwo in ihrer Handtasche vergraben, sagte alles darüber aus. Eifrig kramte sie danach: Interview mit Oskar Paulsen, ehemaliger Häftling. Wer ist er und was tut er hier? Das, und nicht mehr, war ihr Auftrag.

Sie haben es sich überlegt?
Ja, ich will alles über Sie wissen…
Alles?
Ja, alles. Ich will wissen, warum Sie gesessen sind. Ich will wissen, warum Sie zu dem geworden sind, was Sie heute sind.
SIE wollen das wissen oder Ihre Zeitung?
Meine Zeitung will einen Artikel über Sie bringen, den ich schreiben soll, also bin ich es doch, die es wissen will.
Wissen Sie, ich glaube, so kommen wir nicht weiter!
Wir kommen nicht weiter, weshalb?
Weil Sie nicht ehrlich sind. Gehen Sie und denken Sie weiter nach. Vielleicht wird es ja noch etwas mit uns beiden. Ich gebe die Hoffnung nicht auf und wenn Sie es auch nicht tun, wer weiß…?

Klar, sie führte den Auftrag der Zeitung aus, aber war es nicht unerheblich, wer etwas über ihn, Paulsen, wissen wollte? Sie oder die Zeitung?

Kaffee oder Tee?
Ein Wasser wäre nicht schlecht.
Nun, ich höre.
Sie haben recht. Ursprünglich, also, bevor ich Ihre Bekanntschaft gemacht habe, wollte ich ehrlich gesagt, gar nichts über Sie wissen. Später hat sich das gewandelt. Erst war ich neugierig, zu erfahren, wer der Mann ist, an dem die Kollegen sich die Zähne ausbeißen, und jetzt interessieren Sie mich als Mensch. Ich frage mich: Wo ist IHR Punkt? Ich will es herausfinden.
Sie wissen längst, wo MEIN Punkt ist, aber Sie dringen nicht durch, weil Sie befangen sind.
Befangen?
Ja, befangen. Man kann es nicht anders bezeichnen, wenn einem eine andere Sache hinderlich im Weg steht.
Sie meinen die Zeitung, meinen Auftrag?
Selbstverständlich, denn je mehr Sie über mich erfahren werden, desto problematischer wird es für Sie.
Das müssen Sie mir erklären.
Sehen Sie, je mehr Sie aus meinem Innersten zutage fördern, desto mehr Loyalität werden Sie mir gegenüber empfinden. Und das wird Ihnen Sorgen bereiten. Aus Sorgen werden Probleme. Aus Problemen Konflikte.
Konflikte?
Ja, natürlich, Sie werden nicht mehr wissen, wie Sie ihren Artikel abfassen sollen.
Wie ich meinen Artikel schreiben soll, das meinen Sie?
Ja. Ich meine es nicht nur, ich weiß es. Indem Sie immer tiefer in meine Beweggründe für dies und das eindringen, desto bewußter wird ihnen, dass dies nur etwas zwischen uns beiden ist. Verstehen Sie, nur zwischen uns beiden, nicht für andere, nicht für die Öffentlichkeit, nicht für die Zeitung.
Ihre Logik ist bestechend, aber stimmt sie auch?
Vertrauen Sie mir, sie stimmt.

Es nagte an ihr, am Abend, in der Nacht. Sollte Paulsen recht haben?

Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen.
Einen Vorschlag? Machen Sie ihn!
Gut, wir führen unsere Gespräche fort. Ich frage, Sie antworten. Am Ende entscheiden wir gemeinsam, ob daraus ein Artikel für die Zeitung werden soll.
Einverstanden! Denken Sie aber nicht, dass Sie damit den gestern erläuterten Konflikten entkommen können.
Ich weiß, ich kann und werde ihnen nicht entkommen, aber Sie werden ebenfalls in eine schwierige Situation geraten.
Ich bin gespannt, erklären Sie es mir!
Nun, SIE werden entscheiden, ob IHR Punkt weiterhin verborgen bleiben soll. Die Zeitung wird ihn öffentlich machen. Die Menschen werden dann wissen, warum Sie so und nicht anders sind, was es mit ihrer Gefängnisstrafe auf sich hat, ob Sie zur Gemeinschaft gehören wollen oder weiterhin ein Leben in Abgeschiedenheit führen werden.
Sie haben recherchiert? Sie kennen ein paar Details aus meinem Leben?
Ja, habe ich und deshalb bin ich dessen sicher, was ich soeben gesagt habe.
Sie sind schlau und ich gebe Ihnen recht, diese Entscheidung kann nur ich treffen, so wie Sie die ihre treffen werden.

Helga Feddersen, Sie grübeln?, fragte der Chefredakteur.
Nein, ich grüble nicht, ich denke darüber nach, ob und gegebenenfalls welchen Anspruch die Öffentlichkeit hat, Intimes aus dem Leben eines Menschen zu erfahren.
Und, zu welchem Entschluss sind Sie gekommen?

Eine Wochenendausgabe später war Oskar Paulsen Stadtgespräch.

Oskar Paulsen hatte entschieden, der Öffentlichkeit SEINEN Punkt preiszugeben. Es war nicht Gerechtigkeit im üblichen Sinn, die Paulsen dazu veranlasste. Es war weit mehr. Es war das Leid eines Menschen, dem Jahre seines Lebens entrissen worden waren, der im Gefängnis sass für etwas, das er nicht begangen hatte, dem die Tat eines anderen das eigene Leben zerstörte.

Wissen Sie, jetzt fühle ich mich frei, erst jetzt, nach so vielen Jahren! Sie haben es gewußt, MEINEN Punkt gekannt, schon sehr lange, nicht war? 
Ich bin nicht so sicher, ob ich ihn tatsächlich gekannt oder nur erahnt habe.
Und Sie? Sind Sie mit sich im Reinen?
Ja, ich glaube schon. Sie haben mir gezeigt, dass das Innerste eines Menschen keine Handelsware ist, dass wir sehr sorgfältig damit umgehen müssen, wenn wir nicht den Anspruch auf unsere Freiheit verlieren wollen.

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