Früh am Morgen verließen die Männer den Ort. Wetterfeste Umhänge schützten sie vor dem einsetzenden Schneetreiben – unten im Tal. Oben in den höheren Lagen würde sie ein schneidender Wind erwarten. Winzigen, scharfen Nadeln gleich würde der Schnee zu Eis gefroren sein und ihre Gesichter malträtieren. Schweigend stapfte die Gruppe gemäßigten Schrittes bergan. Schwere Rucksäcke drückten die Männer in den Boden, auf dem sie für kurze Zeit ihre Spuren hinterließen.

Beinahe zur gleichen Zeit oder nur ein wenig später gingen in den Häusern vereinzelt die Lichter an. Die Männer der Frühschicht machten sich fertig für ihren harten Tag im örtlichen Zementwerk. Wählerisch konnten die Leute hier nicht sein, denn viele Arbeitgeber gab es nicht. Manche arbeiteten auch bei den größeren Bauern. Eine schwere Arbeit, die zudem nicht besonders viel einbrachte. Viel hatten die Männer am Berg mit den anderen im Werk nicht gemein. Sie kannten sich noch nicht einmal und die einen wussten von den anderen nichts.

Schnee peitschte den Männern entgegen und sie verlangsamten ihren Schritt. Es war kaum noch etwas zu sehen. Nicht ungefährlich – ein falscher Schritt und…, aber sie mussten weiter, durften keine Zeit verlieren, wenn nicht alles umsonst gewesen sein sollte.

Einer war schon eine Stunde früher im Werk eingetroffen, schwang sich auf den Schneeräumer und versuchte ziemlich vergebens, den Massen Herr zu werden. Dann trafen nach und nach auch die anderen ein, begaben sich zu ihren Spinden und waren pünktlich um sechs auf ihrem Posten. Routine wie jeden Tag, dachten sie und wussten nicht, was auf sie noch zukommen sollte.

Gegen 07:30 ging beim örtlichen Polizeiposten ein Anruf ein. Ein Mann sagte, er habe auf dem Weg zur Arbeit eine Gruppe Männer gesehen, die schwer beladen in Richtung Aueralm unterwegs gewesen seien. Bevor der Diensthabende noch nach dem Namen des Anrufers fragen konnte, hatte dieser bereits aufgelegt. Der Polizist zuckte mit den Schultern, machte einen Eintrag ins Dienstbuch und vergaß die Angelegenheit, nicht wissend, was er vielleicht bei etwas mehr Aufmerksamkeit hätte verhindern können.

Oben auf der Aueralm war noch alles dunkel. Um diese Jahreszeit war die Familie Hirschanger nicht mehr jeden Tag auf der Hütte. Je nach Wetter manchmal an den Wochenenden, um den wenigen Bergwanderern einen warmen Platz mit einem einfachen Essen und Getränken anzubieten. Rechts neben dem Eingang zur Gaststube gab es einen fensterlosen Schutzraum, der das ganze Jahr über für jedermann zugänglich war. Die Männer drängten in den Raum – einer von ihnen drehte einen Schalter gleich neben der aus massiven Bohlen gefertigten Eingangstüre und aus ein paar deckenwärts gerichteten Strahlern ergoß sich ein erstaunlich warmes Licht über den Raum.

Unten im Werk war die Frühschicht schon mitten bei der Arbeit. Einige von ihnen waren mit der Transportseilbahn hinauf zur Bergstation gefahren, wo das Werk den benötigten Kalkstein zur Zementherstellung abbaute und mittels der Seilbahn in Transportbehältern talwärts brachte. Bei diesem Schnee und Wind war das Arbeiten alles andere als ein Vergnügen und immer wieder mussten sie wegen des Wetters mit der Talfahrt warten.

Auf der Aueralm indessen leerten die Männer ihre Rucksäcke und brachten allerlei technisches Gerät zum Vorschein. Besonders ins Auge fiel ein Kurbelkasten und drei Rollen mit Draht sowie eine Lafette, in die einer der Männer eine Rolle des Drahtes einspannte. Ein anderer schulterte die Lafette mittels eines speziellen Tragegestelles während  zwei andere jeweils eine der verbliebenen Rollen in ihren Rucksäcken verstauten. Dazu noch zwei längliche in braunes Papier gewickelte Pakete. Wortlos nickten sie sich zu und verließen die Hütte, wobei einer der Männer das Ende des Drahtes von der Lafette mehrfach um den Türknauf wickelte. Kannst losmarschieren, sagte er, ist alles fest.

Die Nacht war mittlerweile dem Tag gewichen und die Uhr zeigt noch gute zwanzig Minuten bis zur morgendlichen Brotzeit oder Jausen, wie die aus dem Österreichischen stammenden Arbeiter sagten. Wie jeden Tag um diese Zeit machten sich der Bergtanner Florian und seine Schwester, die Theresa, auf, um pünktlich allerlei Essbares aus ihrer Bäckerei ins Werk zu schaffen. Das Besondere heute war, dass auch der kleine Bruder Maximilian mit dabei sein durfte. Ob des vielen Schnees hatte der eine besondere Gaudi.

Langsam rollte der Draht von der Lafette. Die zweite Rolle wurde eingespannt und schließlich noch die dritte. Die Männer kamen nur sehr langsam voran, langsamer als ursprünglich geplant, und das gefiel ihnen gar nicht. Es war schon gegen neun und sie hatten ihr Ziel noch nicht erreicht. Ein paar Minuten noch, sagte einer und tatsächlich, schemenhaft war durch das Schneetreiben einer der Masten der Seilbahn zu erkennen. Macht’s euch parat, sagte der von vorhin. Die Männer nickten, entnahmen ihren Rucksäcken die länglichen Pakete und verschwanden im Schnee, wobei einer vorher noch den Rest von der Lafette abspulte und den Draht hinter sich herzog.

Im Werk hatte währenddessen vor wenigen Minuten ein kurzer Sirenenton den Beginn der Pause angekündigt. Florian und Theresa teilten aus, die Männer griffen zu und ließen es sich schmecken. Dampfender Kaffee machte die Runde. Auf den Maximilian achtete jetzt niemand und neugierig wie er war, war er auch schon draußen und flugs bei der Seilbahn. Diese hatte es ihm immer schon angetan. Er stieg in eine der Gondeln, schaukelte etwas hin und her, stieg schließlich wieder aus und kletterte hinüber zum Führerstand, von dem er wusste, dass darin immer einer der Arbeiter irgendwelche Schalter und Hebel bediente, damit die Gondel losfahren konnte.

Die Männer hatten ihre Arbeit am Masten verrichtet und eilten zurück zur Alm. Nur noch wenige Minuten, dann war die Morgenpause im Werk zu Ende. Sie mussten es auf jeden Fall noch vorher schaffen. Schwer atmend erreichten sie endlich die Hütte. Alles in Ordnung, stieß einer hervor und liess sich augenblicklich auf einen der Stühle fallen. Das Ende des Drahtes war mittlerweile vom Türknauf wieder abgewickelt und fest mit dem Kurbelkasten verbunden worden. Na denn, brummte einer, nahm die Kurbel, drehte beherzt ein paar Umdrehungen, sah in die Gesichter seiner Kumpane, sagte erneut: Na denn, und drückte den Knopf auf dem Kasten.

In einer ohrenbetäubenden Detonation ging der Sirenenton unter, der das Ende der Pause anzeigte. Wie gelähmt erstarrten die Männer. Was war geschehen? Sekunden später stürzten sie hinaus, aber der Schnee nahm ihnen jede Sicht. Es war nichts zu sehen, einfach nichts! Wo ist der Maximilian? Hat jemand den Maximilian gesehen?, war plötzlich die aufgeregte Stimme Theresas zu vernehmen. Die Männer, immer noch wie gebannt, schüttelten den Kopf. Niemand hatte den Kleinen gesehen. Maximilian!, schrie die verzweifelte Schwester in den Schnee hinaus. Maximilian! Keine Antwort.

Auf der Aueralm packten die Männer ihre Rucksäcke. Die Lafette, der Draht, notdürftig gerollt, der Kurbelkasten, alles musste wieder hinunter ins Tal und schleunigst entsorgt werden. Keine Spur durfte zu ihnen führen. Sie hatten alles bis ins Kleinste geplant. Ja, sie hatten einen der Masten gesprengt, als Signal, dass sie mit dem weiteren Raubbau ihrer Berge nicht mehr einverstanden waren. Alles Schreiben und Demonstrieren hatte nichts gefruchtet und da waren sie, der harte Kern, wie sie sich selber gerne bezeichneten, auf diese Idee gekommen. Jetzt würde man sie hören, die Proteste, und die Politiker etwas tun, tun müssen! Es war gerade noch so ausgegangen. Die Sprengung musste in der Pause erfolgen, damit niemand auf der Seilbahn war. Es sollte und durfte niemand dabei zu Schaden kommen. Von dem kleinen Maximilian wussten sie allerdings nichts und deshalb kam er in ihrem Plan auch nicht vor.

Die Seilbahn ist im Arsch!, schrie einer im Werk. Sie haben es von oben gemeldet. Einer der Masten soll gesprengt worden sein! Gesprengt? Wozu gesprengt?, schrie’n sie jetzt alle durcheinander. Dazwischen immer wieder Theresas verzweifelte Rufe nach dem Bruder: Maximilian! Maximilian!

Maximilan war in den Führerstand gelangt und hatte gerade damit begonnen, die verschiedenen Knöpfe und Hebel zu bedienen, als es plötzlich diesen fürchterlichen Knall gegeben hatte. Voller Angst, er habe etwas schlimmes angestellt, verließ Maximilian eilends den Führerstand, lief hinaus in den Schnee und hetzte weg, weg von der Seilbahn, weg vom ganzen Werk, hinunter in den Ort, nach Hause, nur nach Hause. Er wusste nicht, dass sie oben im Werk nach ihm suchten.

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