Bewegte Wochen waren das!, meinte Ferdinand Lechner in Anspielung auf die zurückliegenden Wahlen. Ferdinand war einer der kleineren Bauern am Ort. Nicht so klein, dass er und seine Familie nicht hätten davon leben können, aber nicht so groß, wie einige der anderen am Tisch. Der Hinterkofler zum Beispiel, der besaß einen Hof mit an die zweihundert bester Milchkühe. Oder der Markthaler Alfons, der weniger mit der Viehwirtschaft im Sinn hatte, dafür aber jeden Quadratmeter, den er pachten oder kaufen konnte, mit dem Ertragreichsten bebaute, das der Boden hergab und von der EU subventioniert wurde – das musste man dazu schon auch sagen.

Da war doch nix bewegt, sagte einer aus der Runde. Langweilig war’s, was uns die Großen da vorgemacht haben.

So ging es eine ganze Weile hin und her, bis am Ende, auch Dank des Bieres, niemand mehr hätte so genau sagen können, wie es tatsächlich zu dem folgenschweren Ereignis gekommen war.

Stammtische entwickeln oft eine ganz besondere, eigene Dynamik, meinte später ein psychologischer Experte eines Radiosenders, der dem Ganzen als einziger minimale Beachtung zollte, wobei der Experte allerdings nicht die leiseste Ahnung davon hatte, was tatsächlich geschehen war.

Fakt war, dass plötzlich einer einen Hirschfänger in der Hand hatte und ein anderer blutüberströmt zusammenbrach. Fakt war auch, dass die beiden einander nicht gekannt hatten und Fakt war auch, dass niemand überhaupt wusste, was geschehen war. Der guten Ordnung halber sollte erwähnt sein, dass nicht gekannt nicht einschloss, man sei sich nicht früher oder vorher schon einmal über den Weg gelaufen, sondern lediglich meinte, dass man nichts oder nur sehr wenig von einander wußte.

Geh, hock dich nieder, sagte der zufällig anwesende Dorfarzt zu dem Blutüberströmten und zerrte den Mann auf einen Stuhl. Lass ihn doch, sagte einer, siehst doch, wie er aussieht!

Wo is’n der mit dem Messer, dem Hirschfänger?, brüllte einer. Ferdinand Lechner schüttelte den Kopf: Hirschfänger? Was für ein Hirschfänger? Ich hab‘ nichts gesehen. Auch andere bedeuteten, nichts dergleichen bemerkt zu haben.

Draußen indessen, hinter der Wirtschaft, blickte der Hinterkofler verstohlen um sich, bewegte sich dann sehr schnell weiter, einen schmalen Weg entlang durch Gärten hindurch, hin zu den nahen Feldern und Wiesen, bog in einen Seitenweg ein und erreichte wenig später seinen Hof.

Des wirst schon überleben, sagte der Arzt. Is nur a Fleischwundn, …am Oberarm. Deswegen des viele Bluat. Und an der linken Seiten hast a no was, aber nur oberflächlich, an de Rippen. Was is überhaupt passiert?

Einer wollte gerade anheben, etwas zu sagen, aber ein Blick des Markthaler Alfons ließ in augenblicklich verstummen. Kennt ihn doch keiner. Von hier is er jedenfalls nicht. Na, von uns is des koaner, bemerkte auch der Lechner Ferdinand.

Damit schien alles gesagt. Gehts?, fragte der Arzt und verließ, den Verletzten stützend, das Wirtshaus. Gehn mia nüber in mei Praxis, sagte er noch.

Nachmittags, der Hinterkofler war gerade bei seinen Kühen im Stall, drückten sich zwei Gestalten am Seiteneingang durch die nur angelehnte Tür des Wohntraktes und waren wenig später in einem der unteren Zimmer verschwunden.

Spuren gab es da keine mehr, sagte einer der Polizisten. Irgend jemand, niemand wußte, wer, hatte schließlich mit einiger Verspätung die Polizei, das heißt, den Dorfposten verständigt. Der Dienststellenleiter blickte fragend auf. Zwei Stiche mit einem Messer, meinte der Doktor, könnten es gewesen sein, erklärte der andere Beamte, sonst nix, waren alle schon weg.

Bist du a bisserl deppert?, fragte der Lechner den Hinterkofler, als der nach getaner Arbeit zurück ins Haus gekommen war und dort auf die beiden Unerkannten von vorhin traf. Und mit dem Hirschfänger!, bemerkte der Markthaler. Außer uns zwoa hat dich a no a anderer g’sehn, aber der wird nix sagen. Den hab i bloß angschaut, dann hat er’s Mei ghoitn.

Nach dem obligatorischen Schnaps und noch einen oder zwei oben drauf formte sich bedächtig ein von starken Erinnerungslücken geprägtes Bild der Geschehnisse. Warum der Hinterkofler zugestochen haben soll, wenn überhaupt, wie er meinte, erschloß sich keinem der drei.

Wenn du des net warst, warum bist dann so schnell abghaut?, fragte der Markthaler. …und mia genau den Hirschfänger in deiner Hand g’sehn ham, ergänzte der Lechner. Ja, was weiß den ich?, war alles, was dem Hinterkofler dazu einfiel.

Wie schon einer der Polizisten berichtet hatte, war bei deren Eintreffen außer den Wirtsleuten und Bedienungen niemand mehr vor Ort gewesen. So ist’s halt hier, sagte einer, niemand möchte in etwas verwickelt werden, das im später vielleicht leid tät. Nur zu gut verstanden die Polizisten was damit gesagt war. Mochte man zwischendurch auch anderer Meinung sein als der Nachbar, so galt dies nichts, wenn es um den Zusammenhalt ging. Einem Fremden, also einem, der noch nicht einmal hierher gehörte, war etwas passiert. Das konnte schon einmal vorkommen, Beispiele hierfür gab es deren genügend. Aber, warum war er auch hier gewesen? Zum falschen Zeitpunkt noch dazu! Selber Schuld, sagten da die Leute.

Es hat sich nichts aufgeklärt, weder von selbst noch durch die Polizei, die das ganze noch nicht einmal als Fall einstufte. Jedenfalls gab es hierüber in den Akten weder eine Notiz noch ein Protokoll. Weswegen auch?, wie der Dienststellenleiter meinte. Viel wahrscheinlicher, als ein Stich mit einem Messer, war es doch, dass sich dieser Fremde seine Verletzungen selber beigebracht hatte, was, danach befragt, im Übrigen auch der Doktor nicht ausschließen konnte oder wollte.

Hatte dieser Mensch nicht ein Händel mit einer der Frauen vom Dorf gehabt, die ihm den Laufpass gegeben hatte? War es nicht so, wurde hinter vorgehaltener Hand erzählt, dass die ihm, als er zudringlich werden wollte, eine mordsdrum Watsch’n gegeben hatte, dass es ihn hinterrücks auf seinen Allerwertesten gehauen hatte und dort zufällig ein paar Scherben auf dem Boden gelegen waren? Auf Nachfrage konnte allerdings niemand sagen, um welche der allseits bekannten Frauen es sich gehandelt haben sollte.

Den Fremden hat man übrigens fortan im Dorf nicht mehr gesehen. Kolportiert wurde allerdings, dass die drei Spezln, also der Hinterkofler, der Lechner und der Markthaler, gesehen worden sein sollen, wie sie just diesem Fremden irgendwo weiter draußen vor dem Dorf, ein paar Scheine in die Tasche gestopft und ihm dann noch ein paar gute Ratschläge eindeutigen Charakters mit auf den Weg gegeben haben sollen.

Erst viel, viel später sickerte durch, dass jene damals ins Gerede gekommene Frau, eine von Hinterkoflers Bediensteten gewesen sein soll, die auch mit dem Bauern ein Techtelmechtel unterhalten hätte.

Heute redet schon lange niemand mehr über diese Geschichte. Es war halt nur zeitweilig interessant und das auch nur, weil damals keiner etwas Genaues gewußt haben wollte und, wie es sich gab, die Hinterkoflerin, also des Bauern Weib, sich  nur wenig später aus dem Staub gemacht haben soll.

Hirschfänger trägt der Hinterkofer übrigens keinen mehr.

Foto: Creative Commons-Lizenz, flickr, albularider