Unbarmherzig zertrümmerte das Stakkato des Telefons ihre wohligen Träume.

Hochfellner, krächzte sie schließlich schlaftrunken in den Apparat. Minuten später saß sie im Auto, das Blaulicht auf dem Dach, und jagte aus der Stadt.

Es war exakt 04:47 Uhr als Dagmar Hochfellner beim Aumeister im Englischen Garten eintraf. Ein Trupp aus dem Präsidium in der Ettstraße baute gerade Scheinwerferbatterien auf, die in wenigen Augenblicken das Szenario taghell erleuchten würden.

Grüß Sie oder auch guten Morgen, wenn Sie das lieber hören um diese Zeit, sagte eine Stimme und Dagmar sah schemenhaft einen Mann mit ausgestreckter Hand auf sich zukommen. Ach Sie sind’s, antwortete Dagmar, als sie den Kollegen der Kriminalbereitschaft erkannte. Ja, ich, tut mir leid, aber ich dachte, ich informiere Sie lieber gleich, bevor hier alles zertrampelt ist.

Was ist passiert?, fragte Dagmar, drückte die Hand und schob noch ein Grüß Sie auch hinterher. Sie kannten sich beide schon seit Jahren, noch aus der Zeit, als Dagmar selbst im Präsidium gearbeitet hatte, bevor sie dann ins LKA wechselte.

Da vorne, gleich bei der Treppe, die gleiche Handschrift, wie in Ingolstadt und Augsburg. Dagmar trat näher an den Fundort des Toten heran. In diesem Augenblick schoss das gleißende Licht der Scheinwerfer über den Platz vor dem Gasthaus und verlieh dem Ganzen jenes typisch Unwirkliche von Polizeieinsätzen.

Es war schon merkwürdig und niemand konnte sich im Augenblick einen Reim auf die Geschehnisse machen. Drei Tote, drei Männer, alle drei um die Vierzig, nichts Auffälliges, keinerlei Verletzungen und alle drei mit weit aufgerissenen Pupillen, gerade so, als habe etwas Unvorstellbares ihren Tod herbeigeführt.

Schaut’s mir alles mehr als genau an, sagte Dagmar zu den Leuten der Spurensicherung und wusste, dass sie das sowieso machen würden. Der dritte Fall und Sie hatte schon bei den beiden vorangegangen nicht den Schimmer einer Ahnung, warum die Männer dort zu tote gekommen waren, wo man sie jeweils gefunden hatte. Drei Gasthäuser in drei Städten in geräumigen Parks und jeweils beim vorderen Eingang der Gasthäuser in den Morgenstunden ein Toter.

Wer hat den Fund gemeldet?, fragte Dagmar den Kollegen. Ein Jogger, er ist drüben bei einem der Streifenwagen. 

Dagmar ging hinüber. Grüß euch, Kollegen, sagte Dagmar und fragte nach dem Zeugen. Wer läuft denn ausgerechnet um diese Zeit durch den Englischen Garten, wo es stockfinster ist, fragte sich Dagmar. Na ja, warum nicht?

Bei uns ist er nicht, antwortete der angesprochene Streifenpolizist, vielleicht dort, im anderen Wagen!

Dagmar wandte sich an die nächste Streife. Nein, bei uns ist er auch nicht, war die Antwort.

Wo war der Zeuge?

Weder ihr Kollege aus dem Präsidium noch einer der anderen Beamten wußte, wo der Zeuge abgeblieben war. Habt ihr wenigsten seine Personalien?, fragte Dagmar. Haben wir, das heißt, was er uns halt angegeben hat, denn einen Ausweis hatte der Mann nicht bei sich.

Na, dann seid’s so freundlich und überprüft’s das mal!, bat Dagmar. Es würde sie nicht besonders überraschen, wenn der Zeuge falsche Angaben gemacht und sich dann aus dem Staub gemacht hätte. Selbiges kam hin und wieder schon vor.

Ob der Fundort des Toten auch der Tatort war und ob es überhaupt einen Tatort gab, das war noch nicht entschieden. Weder der Gerichtsmediziner noch die Spurensucher konnte hierüber zu diesem Zeitpunkt etwas Verlässliches sagen.

Zurück in der Maillingerstraße versammelte Dagmar ihr Team um sich, wer nicht gerade im Einsatz war, nahm teil. Der Chef, und sie meinte damit den leitenden Kriminaldirektor, wird eine Sonderkommission einrichten, wenn es uns nicht gelingt, etwas mehr Licht ins Dunkle zu bringen. Wir wären dann raus. Arbeit haben wir zwar genug, aber ein wenig blamabel wär’s schon, nicht war?

Alle nickten beifällig, sagten sonst nichts und warteten auf Dagmars Resümee. Sie war ihre Chefin, sie leitete das Dezernat für ungewöhnliche und übergreifende Fälle, intern kurz DüF genannt. Manche sagten auch gerne TÜV, weil Dagmar Hochfellner mit Team immer dann aufkreuzte, wenn andere nicht weiterkamen.

Einer meldete sich dann doch zu Wort. Manche lächelten, andere schauten sich bedeutungsvoll an, denn es war allgemein bekannt, dass der Assistent, jener also, der gleich etwas sagen würde, zumindest Dagmar Hochfellner stets mit Sie ansprach, obwohl sich alle im Team duzten und die Chefin mehrfach vergeblich versucht hatte, dies auch dem Assistenten beizubringen.

So auch dieses Mal. Frau Hauptkommissarin, wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf… Er hielt kurz inne und wartete auf ein Zeichen Dagmars. Als sie kaum merklich nickte, fuhr er mit erkennbarem Eifer fort: Also, Frau Hauptkommissarin, ich meine, vielleicht ist ja gar niemand ermordet worden. Vielleicht haben sich die Herrschaften nur an etwas erschreckt und da hat ihr Herz nicht mehr mitgemacht. Deshalb auch die weit aufgerissenen Augen. Wäre ja kein Wunder des nachts im Park.

Mein Lieber, so dumm ist das gar nicht. Ich habe selbst schon an Ähnliches gedacht, sagte Dagmar. Und wieder nickten die anderen, aber sie nickten oft, wenn Dagmar etwas sagte.

Lasst uns das ganze noch einmal etwas analytisch betrachten. Wir stellen dann nämlich fest, dass alle drei Fälle eines gemeinsam haben und das sind die Zeugen, die Personen, die die Toten jeweils gefunden haben. 

Alle Augen waren nun auf sie gerichtet. Im ersten Fall, in Ingolstadt, findet ein Spaziergänger, der mit seinem Hund, man beachte, um halbvier Uhr früh unterwegs war, den Toten, im zweiten Fall, der in Augsburg, ist es ein Jogger, der, wie jetzt in München, so um vier Uhr früh herum seine Bahnen zieht und, das Beste kommt noch, der Zeuge aus Ingolstadt ist mit unbekanntem Ziel irgendwohin in den Urlaub gefahren, der aus Augsburg ist ebenfalls nicht aufzufinden und der von heute hat sich gleich am Fundort noch aus dem Staub gemacht.

Drei Zeugen, die verschwunden sind! Aber warum melden sie den Fund der Toten der Polizei, wenn sie anschließend mit der Sache nichts mehr zu tun haben wollen?

Wenn wir dieses Rätsel gelöst haben, haben wir auch den Fall oder die Fälle, je nach dem, wie man es betrachtet, gelöst. Also, strengt euren Grips an!

Wieder meldete sich der Assistent: Sagen wir mal, Frau Hauptkommissarin, da hat jemand zwar niemanden umgebracht, wie er umgebracht betonte, grad so, als wär’s ihm ein Greuel, auszusprechen, was doch zu ihrem Tagesgeschäft gehörte, jedoch eine Leiche gestohlen, für ganz bestimmte Zwecke, die er mit der gestohlenen Leiche dann aber nicht erfüllen konnte, und er deshalb dann die Leiche quasi entsorgt hat, auf die Weise, wie wir die Toten eben vorgefunden haben.

Jetzt waren sie alle baff. Sogar Dagmar Hochfellner, die Chefin, wie sie vom Team respektvoll genannt wurde, warf dem Assistenten einen anerkennenden Blick zu.

Eine gute, eine sogar sehr brauchbare Theorie, sagte Dagmar. Hätten wir es in den drei Fällen nun mit ein und demselben Täter zu tun oder wäre es Zufall oder gäbe es mehrere Täter, die aber irgendwie zusammengehörten, ein gemeinsames Ziel verfolgten?

Wir gehen dieser Spur nach!, entschied Dagmar und sie fügte an: Ich meine, dass du mit dem heutigen Tag aus dem Assistentenstatus herausgewachsen bist. Du bist jetzt einer von uns. Ich werde mit dem Direktor reden.

Beifälliges Klopfen auf den Tisch, anerkennende Blicke, der jetzt nicht mehr Assistent dreht sich zu Dagmar und sagte plötzlich mit einem Lächeln: Darf ich die Ermittlungen über etwaige Leichendiebstähle übernehmen, Frau…, äh.., Dagmar?

Wochen später war in den Zeitungen zu lesen, mit welch ausgefeilter Cleverness es dem LKA gelungen war, das Geheimnis um die Toten von Ingolstadt, Augsburg und München zu lüften.

Ein Ring krimineller Subjekte hatte sich auf den Diebstahl von Leichen spezialisiert. Leichen werden für alles Mögliche gebraucht. Zuvorderst in der wissenschaftlichen Forschung, gefolgt von Organspenden. Leichen werden gestohlen, wo man ihrer handhabbar werden kann, dann ins Ausland verfrachtet oder aber auch im Inland verwendet und verbraucht. Beschaffer und Abnehmer handeln dabei gleichermaßen kriminell, wobei der Diebstahl von Leichen selbst nicht strafbar ist, weil Leichen keine Sache sind, so das Recht. Nach dem Ableben wird der Körper herrenlos, es bestehen keine Eigentumsrechte an ihm. So fällt der Diebstahl von Leichen lediglich unter die Rubrik Störung der Totenruhe (§ 168 StGB).

Das kam alles an den Tag und noch eines erfuhr die erstaunte Öffentlichkeit: Die Diebe träufeln gelegentlich eine Gefäß erweiternde Substanz in die Augen der Toten. Deren Reaktion gibt ihnen Auskunft über den Todeszeitpunkt und damit auch über die Verwendbarkeit der Leichen. Daher die geweiteten Pupillen, sagte der ehemalige Assistent.

Foto: Creative Commons, flikr, skley