Der Schlapphut verdeckte die zerfurchte Stirn des Mannes und gab nur wenig seiner funkelnden Augen preis, als er mit einem verächtlichen Grinsen ins Tal blickte. Seit Wochen waren sie hinter ihm her. Er sah sie gut hundert Meter unterhalb ein Schneefeld queren. Fünf Männer, bewaffnet, ganz deutlich waren die Mündungen der geschulterten Gewehre zu erkennen. Grenzschutz, Bundespolizei oder wem immer sie sonst angehörten – für ihn war das ohne Bedeutung.

Sepp Schmiedhuber schob den Hut aus der Stirn und wischte sich mit dem Ärmel seiner derben Joppe den Schweiß vom Gesicht. Trotz der Kälte hier oben war es ihm beim Anblick der Verfolger heiß aufgestiegen. Sie würden ihn nicht finden, nicht finden können, solange sie nicht die hochgelegenen Felsmassive mit ihren Einbuchtungen und Höhlen unter die Lupe nähmen. Er kannte hier jeden Winkel, sie nicht. Schon als kleiner Junge war er hoch gestiegen und hatte sich die vielen Gänge und Verbindungen im Fels eingeprägt.

Schon bald allerdings würde die Sonne den Schnee mit unbarmherziger Gewissheit zum Schmelzen bringen. Dann würden die Höhlen volllaufen mit Schmelzwasser, Rinnsale würden sich bilden und zu Bächen anschwellen, die alles mitrissen. Zwar würden die Leute ihn nicht mehr aufstöbern können, aber er würde hier oben auch keinen Unterschlupf mehr finden – vielleicht noch zwei, drei Wochen, vielleicht auch schon etwas früher. Die Vorräte gingen auch zur Neige. Ein paar Dosen und Spiritustabletten für den kleinen Campingkocher hatte er noch, dazu etwas Reis und  Nudeln, aber der Sepp sehnte sich wieder einmal nach etwas Kräftigem. Wird eh nicht mehr lange dauern, sagte der Sepp zu sich, dann hab‘ ich euch am Krawattl!

Der Trupp unterhalb legte eine Pause ein. Irgendwo muss er doch sein, der Hundsfott, sagte der Truppführer zu den Männern. Sie nickten zustimmend und reckten die Hälse, als würde sie den Gesuchten so leichter ausmachen können. Der Sepp kennt die Berg wie sonst keiner, bemerkt einer der Männer. Dann stapften sie weiter. Die breiten Spuren Ihrer Schneeschuhe verloren sich schließlich im angrenzenden Wald.

Unten im Ort hatten die Menschen derweil andere Sorgen. Das Meischenberger stand zum Verkauf. Der alte Meischenberger war vor ein paar Monaten 86jährig verstorben und seine Erben hatten mit dem Hotel nichts am Hut. Das Meischenberger war nicht bloß irgendein Hotel, das Meischenberger war eine Institution. Die Gäste kamen von überall her: zum Golfen, grad so wie zum Reiten oder zum Wandern und im Winter natürlich zum Schifahren und anderen Wintersportarten. Viele der Einheimischen waren dort beschäftigt. Noch mehr aber zählte, dass das Meischenberger die Fremden wie ein Magnet anzog, darunter besonders diejenigen, bei denen die Brieftasche locker saß und die ihr Geld gerne für allerlei Vergnügungen ausgaben. Kurzum: Der ganze Ort, ja die ganze Gegend profitierten davon.

Durchgesickert war, und jetzt kam der Sepp Schmiedhuber ins Spiel, dass angeblich eine amerikanische Investorengruppe hinter dem Hotel her war und den Erben einen horrenden Betrag geboten haben soll. Der Sepp hatte sogar herausgefunden, dass hinter alldem die bekannte Kette Mc-sowieso stecken soll. Und der Sepp war im Ort auch nicht bloß irgendeiner, sondern der Lokalredakteur des Landkreisboten und ein eifriger Verfechter heimatlicher Verbundenheit. Eine riesige Kampagne hatte er angezettelt, der Sepp, und für den Mc-sowieso, und damit natürlich auch für die Erben, sah es mit einem Mal gar nicht mehr so gut aus. Und just da geschah es, dass plötzlich eines nachts die Sirenen heulten und die freiwillige Feuerwehr zum Löschen eines Brandes ausrücken musste. Auch die Feuerwehren der Nachbargemeinden waren blitzschnell vor Ort und sogar von Reichenhall und Salzburg kamen sie herüber.

Seitdem suchten sie wie verrückt nach dem Sepp, der wie vom Erdboden verschluckt war. Schnell war man sich bei den Interessierten nämlich darin einig, dass nur der Sepp hinter diesem Feuer stecken konnte. Lauthals hatte er schließlich überall herum posaunt, dass ihm schon noch etwas einfallen würde, um diesen Deal zu verhindern. Andere, weniger Involvierte am Ort, sahen dies freilich ganz anders. Der Brand habe gerade gepasst, meinte diese Gruppe, weil er den Verkauf beschleunige. Ein Großteil des Hotels war den Flammen zum Opfer gefallen und musste wieder aufgebaut werden. Und bei der Gelegenheit werden die neuen Besitzer gleich noch kräftig modernisieren und das ist doch für alle gut, nicht wahr?, streuten die Erben.

Natürlich war der Sepp Schmiedhuber die letzten Wochen nicht nur hier oben herumgelungert, sondern hatte selbstverständlich immer wieder unten bei Freunden Unterschlupf gefunden, was aber aufgrund der Polizeipräsens immer schwieriger wurde. Jetzt im Augenblick lebte er tatsächlich in einer der Höhlen, die tief in den Berg hineinreichte und einen Fluchtweg ins Freie bot, sollten sie ihn doch noch aufspüren.

Mitten in der Nacht schreckte Sepp Schmiedhuber hoch. Ein Geräusch! Eilig drehte er den Docht der Petroleumlampe herunter, sodass nur noch ein schwacher Schein seine nächste Umgebung in ein undurchsichtiges, trübes Licht tauchte. Ganz deutlich vernahm er es jetzt wieder. Mist, entfuhr es ihm. Mit einem Griff warf er seinen Rucksack um die Schultern, setzte den Schlapphut auf und stolperte, die Petroleumlampe in der Rechten, in einen schmalen Seitengang. Wenn Sie’s sind, werden sie dich bald einholen, fluchte er vor sich hin, wissend, dass ihn der verursachte Lärm seiner Flucht verraten und den Schergen den Weg weisen würde. Aber es nützte nichts, er musste sich beeilen und konnte darauf keine Rücksicht nehmen.

Ich glaub‘ wir haben ihn, sagte ein bärtiger Mann mit gedämpfter Stimme in ein Sprechfunkgerät: Sind an der Ganglhofer Höhle, eindeutige Spuren. Wir geh’n jetzt langsam rein. Ende! Der Mann flüsterte ein paar Anweisungen, worauf zwei aus der Gruppe sich aufmachten und weiter nach oben stiegen, während die drei anderen, die Gewehre schussbereit, langsam in die Höhle vordrangen, das gleißende LED-Licht der mitgeführten Stirnlampen auf den Höhlengang gerichtet.

Unten in der Gendarmerie hockten und standen indessen mehrere bewaffnete Männer in schwarzen Overalls vor einem Funkgerät und verfolgten die knappen Mitteilungen aus dem Berg. Einer von Sepp Schmiedhubers früheren Weggefährten aus der Jugendzeit hatte den entscheidenden Hinweis gegeben. Der Weg zur Höhle war beschwerlich, aber nicht unmöglich, ihn auch nachts zu gehen. Und so geschah es denn auch. Der Einsatzleiter meinte, den Sepp nachts leichter überrumpeln zu können als am Tag, wenn er alle Sinne angespannt hätte. Sie sind jetzt in der Höhle, bemerkte der Einsatzleiter, ein muskulöser, durchtrainierter Mann um die Mitte dreißig. In wenigen Sekunden wird die Funkverbindung abreißen, dann hören wir erst wieder etwas, wenn der Auftrag so oder so erledigt ist.

Stille. Die Männer in der Gendarmerie fläzten sich in einen Stuhl oder auf die Bank und warteten. Warten, darin waren sie auch Spezialisten, Warten gehörte zum Job, machte sogar oft den größten Teil ihrer Einsätze aus. Dann auf Kommando zugreifen, schnell, präzise, routiniert. Es wird nicht geschossen!, hatte der Einsatzleiter angeordnet. Der Mann sei zwar mit allen Wassern gewaschen, aber im eigentlichen Sinn nicht kriminell, meinte er. Notwehr natürlich ausgenommen, ergänzte er noch. Jetzt hockten sie hier herum und warteten, wie so oft schon.

Der Sepp kannte die Höhle und ihre Verzweigungen im Schlaf und hätte jeden Weg auch ohne Lampe bei totaler Finsternis gefunden. Die anfänglich näher kommenden Geräusche seiner Verfolger ebbten ab und verstummten dann gänzlich. Entweder haben sie einen falschen Abzweiger genommen oder müssen auf etwas warten, dachte er. Weiter! Nur noch wenige Meter und er würde den hinter einer Felsplatte gelegenen Ausgang erreichen. Da! Sepp konnte den Schein von Lampen ausmachen, die nicht sehr weit von der Felsplatte entfernt sein konnten. Also wussten sie von diesem Ausgang und versuchten, ihm den Weg abzuschneiden.

Wir haben den Ausgang Felsplatte erreicht, schalten die Stirnlampen ab und gehen in Deckung, quäkte das Funkgerät plötzlich. Verstanden, sagte der Einsatzleiter, sonst nichts. Routine, jeder wusste, was er zu tun hatte. Dann: Wir sind jetzt am Ausgang der Höhle, keine Spur von Sepp Schmiedhuber. Er muss aber hier gewesen sein, soviel ist sicher. Erbitten Anweisung! Ende!

Blitzschnell hatte er den Docht der Lampe völlig herunter gedreht und diese dann irgendwo in der Finsternis abgestellt. Sepp war jetzt auf seinen Instinkt angewiesen. Es gab noch einen zweiten Ausgang, Hierfür musste er nahe der Felsplatte erst einen schmalen Kamin hochsteigen, was aber für ihn als geübten Kletterer kein Problem war. Dann ein paar Meter nach rechts, um schließlich nach etwa zehn Metern eine flache Öffnung zu erreichen, die er nur auf dem Bauch liegend passieren konnte. Ein paar weitere Meter nach oben, von wo aus dann ein kaum wahrnehmbarer Pfad schräg nach rückwärts von der Wand wegführend auf einen breiteren, von Wanderern gerne benutzten Weg hinunter ins Tal, einmündete.

Abbrechen, sagte der Einsatzleiter ins Mikrofon, kommt’s runter! Jetzt kriegen wir ihn eh nicht mehr. 

Später, im Büro des Bürgermeisters, verfolgte dieser gespannt den Bericht der Polizisten, die Sepp Schmiedhubers Versteck aufgestöbert hatten. Wundert mich gar nicht, bemerkte er nicht ohne Stolz in der Stimme, ist einer von uns, der Sepp, den kriegt’s ihr nie da oben! 

Am nächst Tag dann staunten die Leute im Ort nicht schlecht, als der Regionalkurier am Nachmittag unentgeltlich ein Extrablatt verteilte: Redakteur unschuldig! Polizei überprüft Alibi nicht! Minutiös war aufgelistet, wo überall Sepp Schmiedhuber am Tag des Brandes gewesen war, mit wem er gesprochen hatte, und so weiter.

Der Staatsanwalt stellte daraufhin jegliche Ermittlungen gegen Sepp Schmiedhuber ein, die zusätzlichen Polizeikräfte wurden abgezogen und alles schien wieder wie früher, mit einer Ausnahme: Aus dem Verkauf an Mc-sowieso wurde nichts. Zu großer Widerstand in der Bevölkerung, Imageschaden und ähnliches war von den Verantwortlichen zu hören.

Da schauten die Erben ziemlich dumm aus der Wäsche. Wer den Brand gelegt hatte, kam nie an den Tag. Das Meischenberger wurde wieder aufgebaut. Wohlhabende Bürgern hatten hierfür eine Interessengemeinschaft gebildet, den Erben einen Preis weit unter dem Gebot von Mc-sowieso bezahlt und freuten sich fortan an den doch üppigen Einnahmen aus dem Meischenberger-Betrieb.

Gemunkelt wurde viel am Ort und auch heute gibt es noch böse Zungen, die behaupten, der ganze Schlamassel sei erst überhaupt von dieser Interessengemeinschaft eingefädelt worden, allen voran von Sepp Schmiedhuber, der schon sehr bald den Vorsitz dieser Gemeinschaft übernahm und auch heute noch, viele Jahre danach, inne hat.

Wissen’s, hatte ein Einheimischer, der namentlich nicht genannt werden wollte, auf die Frage eines Rundfunkreporters geantwortet: Wenn  de Großkopferten von hier sich was in Schädel g’setzt haben und des a no durchzieh’n wollen, dann ham’s keine Chance, dann kimmt da nix aussi! Und er meinte damit, dass dann eben bis in alle Ewigkeit nichts aufgeklärt werden könne. Das Leben bei uns ist eben so!, fügte er noch an.

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